Ward Christensen und Randy Suess
Als am 25. August 1993 im Broadmoor Hotel in Colorado Springs die Creme der US-amerikanischen Computer-Hobbyisten zur ONE BBSCON zusammentraf, bat der Begrüssungsredner alle Anwesenden aufzustehen; wer keinen eigenen Computer am Netz betrieb, sollte sich wieder hinsetzen. Danach sollten diejenigen sich setzen, die 1992 noch keinen Rechner am Netz hatten, dann 1991. Als er bei 1978 ankam, stand nur noch ein Mann. „Leute”, sagte der Redner, „das ist Ward Christensen.”
Mitte Januar 1978 hatten sich bereits Vorzeichen des Jahrhundert-Blizzardsbemerkbar gemacht, der zwischen dem 25. und 27. Januar über den Osten der USA fegen sollte, und Christensen in seinem Haus in einem der Suburbs von Chicago eingeschneit. In seiner Wohnung stand das Infotelefon des CACHE-Computerclubs (Chicago Area Computer Hobbyist Exchange). Er rief seinen Kumpel Randy Suess an und schlug einen alternativen Zugang zu den Clubnachrichten vor. Wenn er seinen zweiten Rechner ans Telefon hängen würde, könnten die Leute sich den Newsletter elektronisch nach Hause holen. Das wäre einmal ganz was Neues.
Christensen wollte so etwas wie die Korkpinnwand im Club in digitaler Form und schrieb dafür ein bisschen Software. Das Ganze erhielt die Bezeichnung „Computerized Bulletin Board System” (CBBS). Am 16. Februar 1978 war das Ding online. Das Modem übertrug Daten mit 110 Bits pro Sekunde. Neben den einzelnen Buchstaben, die über den Bildschirm flimmerten, konnte man bequem zu Fuss hergehen.
Die BBS-Pioniere hatten die Anlage nicht draussen bei Christensen, sondern in der Wohnung von Suess in der Innenstadt von Chicago aufgestellt, um die Telefonkosten niedrig zu halten – in der Annahme, es würden nur User aus Chicago anrufen. „Aber die Anrufe kamen aus dem ganzen Land”, erzählt Suess. Im November 1978 veröffentlichte das Computermagazin „Byte” eine Beschreibung von Christensen und Suess, wie man eine solche virtuelle Pinnwand zusammenbastelt. Das ARPAnet, Vorläufer des Internets, war zu dieser Zeit einem exklusiven Kreis von Wissenschaftlern vorbehalten. Mit den Bulletin Board Systems, die nun wie Pilze aus dem Boden schossen, begannen die ersten unabhängigen Online-Experimente.
Die 80er Jahre wurden zur Ära der Computer-Mailboxen, wie die Bulletin Board Systems im deutschsprachigen Raum genannt wurden. (Heute hat der Begriff eine andere Bedeutung angenommen und steht für den Anrufspeicher von Mobiltelefonen oder den Posteingang eines E-Mail-Accounts.) 1983 hatte Tom Jennings in San Francisco Fidonet geschrieben, das erste Programm zur Vernetzung allein stehender Mailboxen. Nachdem die PC-Revolution mit der Erkundung der neuartigen Mikrocomputer ihren Anfang genommen hatte, begannen sie nun, sich miteinander zu verbinden.
Hartmut „Hacko” Schröder vom Hamburger Chaos Computer Club (CCC) programmierte das erste Mailbox-Programm in der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Informationsdesaster anlässlich der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl – als tagelang unklar war, was eigentlich passiert war, und Wissenschaftler ihre Messwerte nicht publik machen durften – ging daraus das deutsche Z-Netz hervor. Die Software war so geschrieben, dass Zensur keinen Erfolg haben sollte. Einmal veröffentlichte Nachrichten konnten nicht mehr zurückgeholt werden.
Ein Jahrzehnt lang machte eine lebendige, experimentierfreudige und rasch anwachsende Szene erste Erfahrungen mit dem Austausch, der Arbeit, dem Leben im Netz. Die „Tiernetze” prosperierten – das MausNet und die nach Hunden benannten Netze Zerberus (Z-Netz) und Fido. Während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien verlief eine der wenigen verbliebenen Kommunikationsverbindungen zwischen den verfeindeten Ländern über die legendäre Z-Netz-Mailbox Bionic. Im CL-Netz („ComLink”) fanden Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen erstmals eine eigene digitale Öffentlichkeit. Mehr als ein Jahrzehnt bevor Blogs populär wurden, veröffentlichte der niederländische Friedensaktivist Wam Kat im CL-Netz sein tägliches Zagreb Diary, den Urvater heutiger Blogs.
Mitte 1993, als die Tagung im Broadmoor Hotel stattfand, bestand das World Wide Web aus etwa 50 Rechnern. Fünf Monate später waren erstmals eineinhalb Seiten über das Web im Wirtschaftsteil der „New York Times” zu lesen. Die erste WWW-Konferenz im Frühjahr 1994 in Genf war komplett überbucht. Im Juni gab es bereits mehr als 1.500 Web-Server. Der Rest ist Geschichte.