Netzwerken im Sinne Eric Saties

Rena Tangens

 


Von Art d'Ameublement, ZaMir-Netz und einem kollektiven Europäischen Tagebuch

Was es auf den nächsten Seiten zu lesen gibt:

1) Gestatten, daß ich mich kurz vorstelle

2) Wie es von Erik Saties Musik zu Art d'Ameublement kam

3) ZaMir– ein Netz für den Frieden in Ex-Jugoslawien

4) Die Geschichte des ZaMir-Netzes im Zeitraffer

5) Und was ist das Besondere an ZaMir?

6) Vom Tagewerken: Zagreb Diary und Europäisches Tagebuch

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1. Vorstellung

Dobar dan, guten Tag!

Mein Name ist Rena Tangens. Ich bin Künsterin, lebe meistens in Bielefeld und habe dort zusammen mit padeluun das Kunstprojekt Art d'Ameublement gegründet. In meinem Gepäck reiste das erste Modem, das eine documenta (8!) je gesehen hat. Und mit mir kamen die ersten Häcksen in den Chaos Computer Club. Seit 1987 organisiere ich die monatliche Public Domain – eine Veranstaltungsreihe, die sich Themen zu Zukunft und Technik, Wissenschaft und Politik, Kunst und Kultur widmet. 1987 wurde von aktiven Besucher/innen der Public Domain der FoeBuD e.V. gegründet und 1989 die MailBox Bionic, die bald ein wichtiger Knoten in den freien Bürgernetzen wurde. Ab 1991 arbeitete der FoeBuD am Aufbau des ZaMir-Netzes in Ex-Jugoslawien.

1996 schrieb ich meine wissenschaftliche Abschlußarbeit zum Thema "Das Leben im Netz", Ende 1999 erschien die lang erwartete 4. Auflage unseres deutschen Handbuchs zum Verschlüsselungsprogramm PGP (Pretty Good Privacy). Und irgendwann zwischendrin war ich als Artist in Residence in Kanada, stellte mit dem FoeBuD 6 Jahre lang selbst auf der CeBIT in Hannover aus, baute mit padeluun das babylonische Kommunikationskunstwerk wiwiwi-nang nang nang und beriet die Enquetekommission des Deutschen Bundestages in Sachen Medienkompetenz. Tja, und was hat Erik Satie mit all dem zu tun?

2. Art d'Ameublement

Erik Satie (1869-1925) war Avantgardist und komponierte Hintergrundmusik: keine E-Musik zum ehrfürchtig Lauschen – aber eben auch nicht Muzak, die heute allgegenwärtige Geräuschkulisse, die Menschen zum Konsumieren und Käfighühner zum Eierlegen anregen soll. "Musique d' Ameublement" – also "Musik wie Möbel" oder "Musik als Inneneinrichtung" – nannte Satie sein Konzept: Musik, die keine weitere Bedeutung haben sollte, als ein anderer Teil der Einrichtung des Raumes oder die Wärme oder das Licht. Das wohl bekannteste Stück dieser Art heißt Vexations. Es ist ein 1-Minuten-Stück, das aber auf Vorschlag des Komponisten 840 Mal wiederholt werden soll. Eine gepflegte Aufführung der Pages Mystiques – so heißen die Vexations inclusive Vor- und Nachspiel – dauert etwa 15 Stunden. Die Gäste müssen sich also Zeit nehmen. Damit es für sie angenehm ist, die ganzen 15 Stunden dabeizubleiben, muß der Raum entsprechend eingerichtet sein: kein Konzertsaal, sondern Stühle und Tische in lockerer Anordnung, Liegen zum Ausruhen, Bücher und Spiele, ein Buffet mit weißen Speisen und irgendwo mittendrin steht der Flügel. Anfangs sitzen alle still und hören aufmerksam zu; nach einiger Zeit löst sich die Spannung, die ersten beginnen, – zunächst noch flüsternd – sich zu unterhalten, einige stehen auf und gehen zu anderen Tischen, bald auch zum Buffet. Es wird gelesen, gespielt, diskutiert, geschlafen, der Sinn des Lebens erörtert, Pläne geschmiedet, Menschen lernen sich kennen … Gelassene und heitere Atmosphäre … Das Publikum wird zur Hauptperson – ohne daß die Menschen von irgendwelchen Akteuren (bzw. Animateuren) von einer Bühne aus dazu aufgefordert worden wären – es passiert einfach.

Wie Erik Satie seine Musik gemeint hat, so wollen wir Kunst machen: Kunst, die die Menschen nicht zu passivem Publikum macht, sondern ihnen einen Raum mit einer angenehmen, anregenden Atmosphäre zur Verfügung stellt, in dem sie selbst handelnde Subjekte sind. Diese Kunst hat keine Produkte, sie manifestiert sich im Prozeß.

Dieser Kunstbegriff war stets auch der Hintergrund meiner Arbeit für die elektronischen Bürgernetze. Mich interessiert dabei vor allem, wie diese Netze gestaltet werden müssen, damit sie zu einem Ort der Selbstverwirklichung, der Gemeinschaft, der Auseinandersetzung, des Austausches und des produktiven Lernens werden können. Und mich interessiert – frei nach Erik Satie – mit den Netzen einen entsprechend möblierten Raum anzubieten, in dem die Bedingungen dafür gegeben sind und die Menschen sich wohlfühlen.

Die Theorie genügte uns nicht –wir probierten es aus

Unsere MailBox1 in Bielefeld war von Anfang an ein Team-Projekt. Sie wurde von aktiven Besucherinnen und Besuchern der monatlichen Veranstaltungsreihe Public Domain gegründet und bekam von mir den Namen Bionic. "Bionik" heißt in der Wissenschaft, Prinzipien aus der Natur in die Technologie zu übertragen. Der Name läßt anklingen, daß diese MailBox mehr ist als ein Computer – sie hat Eigenleben und ist Teil eines sich selbst organisierenden Systems. Die Bionic hat ihren Platz in der Galerie "Art d'Ameublement" – sie war die erste MailBox in Deutschland, die in einen Kunstkontext gestellt wurde.

Das ZAMIR Transnational Network – MailBox-Projekt für den Frieden

"Za mir" bedeutet in den meisten Sprachen, die im ehemaligen Jugoslawien gesprochen werden, "für den Frieden". Das ZaMir-Netzwerk ist ein Computernetz von Friedensgruppen in der Balkanregion. In den Jahren des Krieges auf Kosten der Bevölkerung hat sich hier ein einzigartiges Kommunikationsmedium etabliert: ZaMir ist das einzige öffentliche Forum für den Dialog zwischen FriedensaktivistInnen aus Serbien, Bosnien, Slowenien, Kroatien und Montenegro. Mit einfacher Computer- und Telefontechnik wird selbst in der belagerten Stadt Sarajevo ein Netzwerkknotenpunkt betrieben.

Eric Bachman ist einer der Begründer dieses transnationalen Netzwerkes gegen den Krieg. Zusammen mit dem FoeBuD e.V. in Bielefeld organisiert er praktisch seit dem Ausbruch der Kriegshandlungen in den Republiken des ehemaligen Jugoslawiens den Nachrichtenfluß über Zensur- und Nationalismusbarrieren hinweg.

Sinn und Zweck des MailBox-Projektes ZaMir besteht darin, den Anti-Kriegs-, Friedens-, Menschenrechts-, nichtstaatlichen und Mediengruppen in den verschiedenen Ländern und Gegenden Ex-Jugoslawiens eine Möglichkeit zu geben, miteinander zu kommunizieren. Es sollte ihnen ermöglichen, weiterhin mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten.

Das Projekt traf auf eine Situation, in der Vorurteile, Haß und Angst zwischen Menschen und Völkern verschiedener ethnischer Hintergründe sich fast widerstandslos ausgebreitet hatte. In einer solchen Situation ist die Möglichkeit zur Kommunikation, mit der Menschen sich erreichen können, neue Bekanntschaften finden oder alte Freundschaften neu aufleben lassen können, von äußerster Wichtigkeit.

ZaMir dient nicht nur zum Austausch von Briefen, Nachrichten, Neuigkeiten und Ideen innerhalb der Friedensgruppen, sondern auch dazu, die Menschen in den Gebieten der Kriegsparteien wieder miteinander kommunizieren zu lassen. In diesem Rahmen bietet das Projekt nicht nur humanitären Organisationen, schulischen Betrieben und anderen nichtstaatlichen Organisationen einen Zugang, sondern ist auch dazu in der Lage, beispielsweise Flüchtlingen dabei zu helfen, sich gegenseitig wiederzufinden.

Kurze Geschichte des ZAMIR-Netzes

Als 1991 in Ex-Jugoslawien der offene Krieg ausbrach, wurden nahezu alle Verbindungen zwischen Kroatien und Serbien unterbrochen, z.T. durch Zerstörung der Infrastruktur, aber auch durch aktives Betreiben der jeweiligen Machthaber. Es war nun nicht mehr möglich, zwischen beiden Landesteilen hin und her zu reisen oder über die neue Grenze hinweg ein Telefongespräch zu führen. Auch das Postsystem brach während des Krieges zusammen. Kommunikation wurde nahezu unmöglich. Dies war besonders hinderlich für alle, die mit Leuten auf der anderen Seite aktiv zusammenarbeiten wollten, z.B. Hilfsorganisationen und Friedensgruppen. Um den Kontakt wiederherzustellen – sowohl untereinander, als auch mit dem Rest der Welt – und um ungefilterte Informationen aus diesen Ländern zu bekommen, wurde das ZaMir-Netz ins Leben gerufen.

Das ZaMir-Netz begann zunächst mit dem Projekt Communication Aid als Fax-Dienst: Von Belgrad aus wurden Nachrichten per Fax nach London geschickt, die von Menschen dort im Büro wieder ins Faxgerät gesteckt und nach Zagreb weitergeschickt wurden. Und umgekehrt. Warum dieser Umweg? Nun, Not macht erfinderisch: Die Auslandstelefonverbindungen funktionierten in Serbien und Kroatien zumeist noch, auch wenn die Direktverbindungen unterbrochen worden waren. So konnte der Kontakt wiederhergestellt werden. Doch dieses Verfahren per Fax war teuer in der Übertragung und umständlich durch die Weiterleitung von Hand. So wurde eine praktikablere Lösung ersonnen.

Eric Bachman, der seit vielen Jahren in der Nähe von Bielefeld und in der Friedensarbeit engagiert ist, war schon von Beginn des Konfliktes an regelmäßig in Jugoslawien. Er entdeckte über die Bielefelder MailBox Bionic die Möglichkeiten der Kommunikation per Computer und Modem. Hier mußte nicht mehr "handvermittelt" werden, sondern die Nachrichten suchten sich fast von selbst einen Weg zu den Empfänger/innen. Innerhalb kürzester Zeit arbeitete er sich in die Technik ein, sammelte Hard- und Software-Spenden und suchte in Jugoslawien Partner, mit denen er eine solche Vernetzung aufbauen konnte.

Es waren keine ausgesprochenen Computerfreaks, sondern eher politisch motivierte Menschen aus dem Umfeld der Kriegsgegnerkampagne in Zagreb und dem Zentrum für kriegsgegnerische Aktionen in Belgrad, die sich entschlossen, selber MailBox-Systeme aufzubauen. Im Juli 1992 wurde in beiden Städten je ein MailBox-System mit der deutschen Zerberus-Software eingerichtet: Die ZAMIRBG und die ZAMIRZG. "ZaMir" heißt "für den Frieden", BG und ZG sind die Abkürzungen für Belgrad und Zagreb. Auch hier wurde die Verbindung zwischen beiden Systemen über den Umweg Ausland realisiert, zunächst kurzfristig über die LINK-ATU-MailBox in Wien.

Serversystem und damit die Nachrichtendrehscheibe im Ausland wurde dann die Bionic in Bielefeld. In Ljubljana wurde die ZAMIRLJ installiert und im März 1994 nahm die ZAMIR-SA, die MailBox im stark umkämpften Sarajevo, ihren Betrieb auf. Im Oktober 1994 kam ein weiteres System in Pristina, Kosovo, die ZANA-PR, hinzu, womit das Netzwerk nun fünf MailBox-Systeme in Ex-Jugoslawien umfaßte, die eMails, UseNet News, das deutschsprachige /CL- und das Zerberus-Netz, APC und auch eine eigene Brettgruppe namens /ZAMIR anboten.

Ende 1994 wurde das ZaMir Transnational Network Mitglied im weltweiten Netzwerk der APC (Association for Progressive Communication). In Tuzla in Bosnien wurde ein weiteres System, die ZAMIR-TZ, eingerichtet. Weitere Systeme in Pakrac, Rijeka und Mostar wurden geplant. 1996 waren die Teilnehmerzahlen auf über 5.000 Gruppen und Einzelpersonen angewachsen.

1997 beendete der Open Society Fund die finanzielle Unterstützung des Projektes. (Die Stiftung des Milliardärs George Soros hatte dankenswerterweise einige Jahre lang Telefonkosten, Hardware und z.T. auch Honorar für Leute, die für ZaMir arbeiteten, bezahlt.)

Mittlerweile hatten die Leute vor Ort erhebliches technisches Know-How gesammelt – leider fehlten den meisten aber der Mut oder auch die Fähigkeiten, ein solches Projekt eigenverantwortlich zu organisieren, insbesondere eine eigenständige Finanzierung (durch Teilnehmerentgelte, Projektanträge bei anderen Trägern, Spendenaquisition) aufzustellen. So wurden nach und nach die meisten Netzknoten von den Betreibern aufgegeben. Das Feld wurde kampflos (jawohl!) kommerziellen Internet-Providern überlassen.

Einzig das ZaMir-System in Zagreb hat den Sprung in die Selbständigkeit geschafft. In seinem Umfeld entstand nicht nur eine Multimedia-Firma, sondern hier hat sich eine ganze Szene von Künstler/innen, Schriftsteller/innen, Journalist/innen und politisch Aktiven zusammengefunden.

3. Was war das Besondere an ZAMIR?

a) ZaMir arbeitete mit Low Tech und Low Cost.

Das von allen ZaMir-Systemen verwendete MailBox-Programm Zerberus begnügte sich auch mit Rechnern älterer Bauart. Reine Textnachrichten brauchen sehr wenig Bandbreite bei der Übertragung. Und auch die Telefonkosten wurden möglichst gering gehalten.

Während andernorts die Internet-Euphorie seltsame Blüten trieb und das World Wide Web mit Kommerz aller Art, Bildern, Sounds und Videoclips aufgeblasen wurde, als ob die Ressourcen unendlich wären, wurden die Systeme des Zamir Transnational Networks mit preiswerter Technik, wenigen Telefonleitungen und viel persönlichem Einsatz betrieben.

Die meisten Netzteilnehmer/innen arbeiteten im ZaMir-Netz mit sogenannten "Pointprogrammen" (auch Offline-Reader genannt). Das heißt, sie lesen und schreiben nicht 'online', sondern sie bestellen sich die für sie interessanten Themenbereiche bei ihrer MailBox. Diese Nachrichten werden dort zusammen mit der persönlichen Post als eine komprimierte Datei zur Abholung bereitgelegt. Das Datenpaket wird per Modem mit einem kurzen Telefonanruf auf den heimischen Rechner herübergeholt, die Verbindung sofort wieder beendet und dann in aller Ruhe 'offline' die Nachrichten gelesen und bearbeitet, ohne daß der Telefongebührenzähler rattert. Den Anruf bei der MailBox kann das Pointprogramm auch automatisch nachts zu den günstigen Telefontarifzeiten machen. Damit verteilen sich die Anrufe der Netzteilnehmer/innen über den ganzen Tag, sie sind auch viel kürzer und damit ist der Netzknoten gleich wieder frei. So sparen nicht nur die einzelnen Netzteilnehmer/innen erheblich Telefonkosten, sondern es spart auch Infrastruktur, denn so ist es möglich, sehr viele Menschen mit nur wenigen Telefonleitungen zu bedienen. In Zagreb z.B. wurden 1.300 Teilnehmer mit nur 3 Telefonleitungen bedient. Das ist kein unwichtiges technisches Detail, denn Telefonleitungen waren Mangelware: in Kroatien beispielsweise kostete die Anmeldung einer neuen Leitung nicht 100 DM (wie in Deutschland), sondern runde 1.500 DM – und es konnte Jahre dauern, bis sie tatsächlich installiert wurde.

b) ZaMirarbeitete dezentral und demokratisch.

Das ZaMir-Netz war nicht einfach nur ein günstiger eMail-Anschluß oder ein bestimmtes inhaltliches Angebot, sondern viel mehr, nämlich eine Gemeinschaft von Menschen, die sich engagieren – nicht in Parteien, aber im weitesten Sinne politisch. Gemeinschaft bedeutet, zusammenzuarbeiten, auch wenn mensch nicht derselben Meinung ist, die selbstgestellten Regeln zu achten und sich verantwortlich zu fühlen – nicht nur für die eigenen Taten, sondern auch für das Netz als Ganzes.

Eine solche Form des Zusammenlebens im Netz ist nicht einfach plötzlich da, sondern sie ist ein Ergebnis von vielen Jahren kontinuierlicher Aufbauarbeit. Die kulturellen und sozialen Erfahrungen, die im ZaMir-Netz als virtuelle Gemeinschaft gemacht werden konnten, waren intensiv, beglückend, lehrreich, sicherlich auch kontrovers, frustrierend, anstrengend – und vor allem eins: authentisch.

Ich hebe das hervor, weil nach US-amerikanischer Denkungsart Bürgerbeteiligung offensichtlich nur noch als Lobbyarbeit von Interessensgruppen vorstellbar ist, und im Zuge der Konvertierung des Internets in eine große Einkaufsstraßenfassade nichts dem Zufall, sondern alles dem Markt überlassen wird. Konkret: Virtuelle Gemeinschaften ("Virtual communities") sind mittlerweile als Marketinginstrument entdeckt worden. Sie dienen im wesentlichen drei Zielen: 1. Die Nutzer/innen loyal zu einer Firma zu halten. 2. Die Nutzer/innen loyal zu einem Produkt zu halten. 3. Aufgrund der vertraulichen Atmosphäre möglichst viele persönliche Daten von den Nutzer/innen zu erhalten, die sie ansonsten eher nicht preisgeben würden.

c) Es ging um echte Interaktion.

Unzählige Dinge werden heutzutage "interaktiv" genannt – nur wenige sind es. "Surfen" im World Wide Web zum Beispiel unterscheidet sich zumeist nur graduell vom "Zappen" quer durch die TV-Programme mit der Fernbedienung. Es kann hier wie dort etwas ausgewählt werden, aber es handelt sich um Alternativen, die von anderen vorgegeben wurden. Solch ein Angebot ist Multiple Choice. Es schafft nur eine scheinbare Individualität. So werden Menschen zu Knöpfchen-drückenden Affen.

Je perfekter etwas designt ist, desto geringer ist die Neigung, daran etwas zu ändern, es zu bearbeiten, andere Interpretationen oder Denkansätze zu erwägen. Interaktiv ist nur etwas, das sich auch selbst ändern kann.

Die Möglichkeit, zwischen vorgegebenen Alternativen auszuwählen, schafft nicht mündige Bürgerinnen und Bürger, sondern bestenfalls zufriedene Konsumenten.

Für eine moderne demokratische Gesellschaft geht es aber vielmehr darum, die Lust zum eigenen und gemeinschaftlichen Handeln zu fördern. Damit das Medium echte Teilnahme ermöglicht, müssen demokratische Strukturen auch innerhalb der Netze verwirklicht werden. Abstimmungsrituale sind dafür keine Garantie. Giovanni Sartori, Politologe an der Columbia Universität, sagt:

Eine virtuelle Demokratie ist eine nichtexistierende Demokratie. Direkte Demokratie dagegen wurde immer als eine Demokratie des Dialogs gedacht. Entscheidungen werden getroffen, indem man miteinander spricht, indem man die Ideen der anderen anhört und seine eigenen erläutert. Wenn diese Vorgehensweise zu einem Druck auf die Fernbedienung verkümmert, erreichen wir keine Demokratie, sondern nur eine Willensbekundung. Die unmittelbare Interaktivität verliert ihren Inhalt und wandelt sich zu einem gefährlichen Multiplikator von Dummheit.2

In der Tat ist jeder Mensch kompetent – u.a. in dem Bereich, der ihre Arbeit, sein Hobby, ihre speziellen Interessen oder seinen Alltag betrifft. Und die meisten Menschen haben nicht nur ein Informations-, sondern auch ein Mitteilungsbedürfnis. In den Bereichen, wo sie sich auskennen, tauschen sie sich gerne mit anderen aus, und wenn sie ernstgenommen und gefragt werden, geben sie auch gerne Auskunft. Dafür müssen Netze aber wahrhaft "interaktiv" gestaltet sein: es muß für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen gleichberechtigten Rückkanal bieten. Und sie müssen einen Rahmen geboten bekommen, in dem sie sich willkommen fühlen, sich zu äußern. Und so kommen wir zum Brett /T-NETZ/TAGEBUCH.

4. Vom Tagewerken: Zagreb Diary und Europäisches Tagebuch

Bei dem Hineinwachsen eines Menschen in die Kultur der ihn umgebenden Gesellschaft spielen die Medien eine große Rolle. Denn Geschichten erklären uns die Welt und der wichtigste Geschichtenerzähler in unserer Gesellschaft ist heutzutage das Fernsehen, nicht mehr Eltern, Schule oder Kirche. Interessant ist, welche Rolle persönliche Erfahrungen gegenüber dem Medienkonsum spielen.

Grundsätzlich ist der Einfluß der Massenmedien auf Menschen in den Bereichen schwächer, in denen sie mehr persönliche Erfahrungen haben. Aber es ist durchaus auch möglich, daß Menschen annehmen, daß ihre eigene Erfahrung untypisch ist, und daß die im Fernsehen dargestellte Version oder das kulturelle Stereotyp "richtiger" ist.

Wenn Menschen selbst beginnen, anderen ihre eigene(n) Geschichte(n) zu erzählen, eignen sie sich damit nicht nur die eigene Vergangenheit an, sondern sie werden selbst ein Teil lebendiger Kultur.

Wam Kat, holländischer Friedensaktivist in Zagreb und Betreuer des dortigen ZaMir-MailBox-Systems, begann Anfang 1992 sein Zagreb Diary, ein öffentliches Tagebuch in den Netzen (zunächst im Brett /APC/YUGO/ANTIWAR, dann zusätzlich im Brett /CL/EUROPA/BALKAN) zu schreiben. Wer dieses Tagebuch liest, bekommt einen anderen Eindruck von dem Krieg in Jugoslawien als aus den Berichten in der Zeitung oder dem Fernsehen. Wam Kat gab in seinem Zagreb Diary ausführliche Schilderungen der politischen Situation, der Kriegshandlungen, wie sie ihm von Leuten direkt berichtet wurden und kommentierte auch die Berichterstattung der lokalen Medien. Er beschrieb aber auch, was er den Tag über so getan hatte, seine Arbeit, welche Menschen er getroffen hatte, welche Musik er gehört hatte. Dabei ist es gerade die Schilderung der allgemeinen Lebensumstände und der alltäglichen Begebenheiten, die sich beim Straßenbahnfahren, Einkaufen oder beim Besuch von Freunden zutragen, die Außenstehenden ein Bild von dem normalen (oder doch nicht ganz normalen) Leben in Kroatien und Bosnien vermittelt.

Davon angeregt initiierte der in Hamburg lebende Grazer Autor Peter Glaser Anfang 1993 die Einrichtung des Brettes /T-NETZ/TAGEBUCH. Hintergrund war eine Veranstaltung des Literaturhaus Wien und des ORF-Kunstradio mit dem Titel Worte brauchen keine Seiten, zu der er gebeten worden war, etwas beizusteuern. Sein Vorschlag war das Europäische Tagebuch, ein fortlaufendes Projekt, das an keinen Ausstellungstermin gebunden ist und an dem alle teilnehmen können, die über einen längeren Zeitraum mitschreiben wollen.

In seiner öffentlichen Einladung zur Mitarbeit an dem Projekt schreibt er:

Zu der Idee des "Europäischen Tagebuchs":

Durch Verbreitung über elektronische Medien zur "Nachricht" geadelt, erzeugen heute Agenturmeldungen den Anschein, die "wirkliche Wirklichkeit" widerzugeben. Den jeweils speziellen Arten von Sprachgebrauch, die sich "Politik", "Wirtschaft" oder "Wissenschaft" nennen, soll durch das "Europäische Tagebuch" eine Vielfalt individueller Realitäten zur Seite gestellt werden, und zwar selbstbewußt.

Ich finde, es gibt ein mindestens genauso gültiges Bild der Welt, wenn ich lese, was Leuten aus den verschiedenen Gegenden so in den Tag hinein geschehen ist, als wenn ich dem Murmeln der gewöhnlich gut unterrichteten Kreise folge.

Um Tagebuch zu schreiben, muß man kein Künstler sein. Ein wenig Beobachtungsgabe reicht aus. Zu den Vorteilen des Tagebuchs gehört, daß Inhalt und Stil freigestellt bleiben. Es geht um die Wahrnehmung der Welt aus erster Hand. Persönliche Gefühle, Gedanken, alltägliche Beobachtungen, aber auch Medienereignisse und Themen der "öffentlichen Diskussion".

[…]

Viel Spaß beim Tagewerken

Peter Glaser

Die so entstandenen und im Netz veröffentlichten Artikel sind subjektive Momentaufnahmen, erfrischend konkret und anschaulich. Klar, daß sie die Welt aus einem subjektiven Blickwinkel zeigen und nicht *die Wahrheit* darstellen. Viele Geschichten von vielen verschiedenen Menschen zusammen aber formen in ihrer Gesamtheit ein Mosaik, das der komplexen Wirklichkeit möglicherweise näher kommt als die verdichteten "Fakten" in Jahrbüchern vom Typ "Das war 1993". Diese Tagebucheinträge sind Teil eines kollektiven Gedächtnisses. Für mich sind sie Geschichte aus erster Hand und Dokumente von zeitgeschichtlichem Wert.

Schließlich und endlich sind die Geschichten außerordentlich spannend zu lesen. Und deshalb möchte ich nicht länger über diese Texte schreiben – sondern verabschiede mich und überlasse Sie der Lektüre einiger Kostproben.

5. Texte aus den Tagebüchern

Nachricht Nummer : 244

Nachricht von : WAM@ZAMIR-ZG.ZER.sub.org

Betrifft : Zagreb Diary

Erstellungsdatum : 28.07.1992 03:14:00 S+2

Kennung : 5ih8DseJtC@ZAMIR-ZG.zer.sub.org

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Zagreb Diary

27-07-1992

Dobar Dan,

HaHaHaHaHaDeZe HaHaHaHaHADeZe ……. (jiggle for HDZ), it is elections, every where by now, on television all of the 4 big ones, at least in their elections budget and financial possibilities, HDZ, HSLS (Social Liberals), HNS (I can't say any else then Savka's party) and last but not least, maybe not in size, but surely in noise, HSP (from Paraga), have their own commercials.

[…]

HDZ is spending 2 million Dmarks in this elections, HSLS and HNS must also at least spend 1 million or more and HSP a little less than a million, but they also have their own army which makes propaganda. The injection in local and foreign printing houses must have been enormous. I often have the idea that they don't know where to put them in Zagreb anymore, so every morning shop keepers are busy to get posters from their shopwindows. And if they are unlucky they have had a visit from 3 different parties over night, we obvious try to glue over the first ones.

But it is an adventure, I saw an old lady, I think around 60 or more with a bag full of self made posters for Tudjman in the Center of town putted her posters up with cellotape on walls, that's not the best way. Or a father with his two little sons, 8 and 10 I guess, who was busy to glue for HSLS, he did it for his first time, that was clear, he had a small cup with some wall paper glue, I think, a very small paintbrush and firstly if looks if he wanted to paint the wall (just around the corner of a main street, a little in the dark), but after some time he saw that his work of art looked well enough to start to but the poster on. He glue it up, turn it to the right a little, then a little to the left, took some steps distance, turn it a little more to the left and a little down. Etc. the whole show took about half an hour for one poster and seen the bag one of his sons carried they had enough to kill the whole free Sunday.

[…]

With Love from ZA-mir-GREB,

Wam:-)

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Nachricht Nummer : 106

Nachricht von : WAM@ZAMIR-ZG.ZER.sub.org

Betrifft : Zagreb Diary 17 May 1993

Erstellungsdatum : 19.05.1993 09:07:00 S+2

Kennung : 518U0U-ZtC@ZAMIR-ZG.zer.sub.org

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Realname: Wam Kat

Zagreb Diary 17 May, 1993

Dobar dan,

[…]

In the buses and trams you often experience such small little scenes which remind you that you are not in a real normal city, even when it looks that way. This morning I was sitting behind a young man who had a coat on with on it something different than the normal American University or baseball signs, which you often see, it had the words "This is a donation from the West Coast Red Cross to Croatia " on it. Thanks to the people in the West Coast I would say, but such a person in such a coat is marked, everybody knows his status just by looking at his coat. I was used to boxes with all kind of marks on it from all kind of humanitarian organisations, but something like this I only had seen so far on blankets, never on clothes.

One tram stop a war veteran enters the tram, he missed his right leg and hand. When the tram starts to drive he starts to speak loudly to all the people, pointing on his missing body parts. Unfortunately I can't follow all what he is saying, but the point is clear he lost his ability to work in his offer to help the his country and is now without income. After his speech he goes through the tram to collect money, most people have suddenly more interest for the scenery outside and look away. Which is also very understandable, most people in the tram have to same problem as this man, namely how to survive with hardly nothing. That outside the most expensive cars pass by and the restaurants are filled up again with people who can effort it doesn't mean that most of the people in Croatia have a good income. The people in the tram look ashamed.

The financial for war veterans is not cleared yet, but more problematic is the situation for young mothers with small children, who lost their husband or friend in the war. Especially those who lost them in the early days of the war when the situation was so chaotic that nobody knows who was in the army and at the front and who wasn't, people went as volunteers and registration wasn't particular the first thing to think about. It will take years to find out what happened. All that time people have to survive from small paid legal or illegal jobs, charity gifts or family.

[…]

Bok I Mir from Zagreb,

Wam

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Nachricht Nummer : 110

Nachricht von : WAM@ZAMIR-ZG.ZER.sub.org

Betrifft : Zagreb Diary 20 May, 1993

Erstellungsdatum : 19.05.1993 22:36:00 S+2

Kennung : 51CVG_bJtC@ZAMIR-ZG.zer.sub.org

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Realname: Wam Kat

Zagreb Diary 20 May, 1993

Dobar dan,

[…]

For the first time in the history of this war the main bakery in Sarajevo stopped to work, already for more days there is again no water, no electricity and gas in the town and the bakery, which kept on working through the whole period run out of oil for their generators. The chief was really sorry, since not only their is no bread, but this going on producing is important for the spirit in the town. Never the less what happens we go on as normal as we can.

It is also spring in Sarajevo, those who survived the war in the town so far are starting to use every free part of the town to seed vegetable in order to produce their own food. And that in a city which is slowly starting to have some kind of normal life, if you have money enough you can go to open pubs on sniper alley, or buy eggs for 3 DEM or….. but the shelling and shooting is not over yet. It is still possible to get killed if you are not fast enough, therefore the making of a video clip as a group in Sarajevo did for their song "Crossroad of Sarajevo" is remarkable. The clip is fantastic and it is rather unbelievable that it is made under conditions which are what they are. The musicians running with their instruments through the street hoping for a safe place to shoot another few seconds of film. The end line "I can never find out why" is indeed a question which nobody ever will be able to

answer.

[…]

Bok I Mir from Zagreb,

Wam

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Nachricht Nummer : 81

Nachricht von : EL.AWADALLA@LINK-ATU.ZER.sub.org

Betrifft : el awadalla, wien, 8.5.93

Erstellungsdatum : 09.05.1993 00:47:00 S+2

Kennung : 14.3593L3EL@AWADALL.zer.sub.org

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heute hörte ich wiedereinmal im radio von selbsternannten republikenund parlamenten in jugoslawien. und wenn der orf "selbsternannt" sagt, meint er das mindestens abwertend. es gibt daher wohl selbsternannteund richtige republiken.

in österreich wurde ja auch einmal die republik ausgerufen. da ich noch nie davon gehört habe, daß die internationale behörde zur genehmigung von republiksausrufungen, die usa, die eg, die uno, der papst, die internationale kommission zur ernennung von parlamenten oder gar die habsburger das erlaubt hätten, handelt es sich bei österreich wohl auch um eine selbsternannte republik (oder wenigstens war die 1. republik soeine).

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Nachricht Nummer : 89

Nachricht von : EL.AWADALLA@LINK-ATU.ZER.sub.org

Betrifft : el awadalla, wien, 14.5.93

Erstellungsdatum : 14.05.1993 21:57:00 S+2

Kennung : 29.35EUTAGL@AWADALL.zer.sub.org

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gestern habe ich ein schönes stück straßenkunst gesehen. und da weder die polizei noch das kulturamt dabei war, schritt niemand ein und der künstler wurde auch nicht betreten, mußte keine strafe zahlen oder gar einsitzen.

denn straßenkunst in wien darf nur zwischen 17 und 21 uhr stattfinden, nach vorheriger anmeldung und in genau festgelegten straßenabschnitten. insgesamt gibt es in wien zehn erlaubte plätze. da stehen dann die musikerInnen (andere straßenkunst kennt das kulturamt nicht) und haben ein taferl dabei, das sie als des musizierens berechtigt ausweist.

zurück zum gestrigen kunststück: da fährt ein mann mit seinem fahrrad auf dem gehsteig auf dem hinterrad. für öffentliches pubertieren scheint er mir doch schon etwas zu alt, denke ich noch. als ich näherkomme, sehe ich, daß er mit seinem hinterrad in eine kleine wasserlacke gefahren ist und daraus nun eine blume zeichnet, eine richtig schöne blume mit langem stengel, fünf geschwungenen blütenblättern und einem stern als blütenboden, alles ohne einen wassertropfen zuviel. dann fährt er einfach weiter, nachdem er straßenkunst begangen hat.

Nachricht Nummer : 75

Nachricht von : J.OHLIG (Jens Ohlig)

Betrifft : 05.05.93 – /T-NETZ/TAGEBUCH

Erstellungsdatum : 05.05.1993 20:09:00 S+2

Kennung : 50GLo00BJe2acya@bionic35.bionic.zer.de

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Bielefeld, 5.5.1993, 22:00 Uhr oder so, Jens Ohlig.

Alle reden von der Metakommunikation, ich tu's einfach. Ich mag dieses Brett, /T-NETZ/TAGEBUCH. Els Beiträge aus Wien lassen bei mir im Gehirn besonders angenehme Gerüche einer fremden Wohnung entstehen. Ich stelle mir Wien so vor, wie ich mir diesen Geruch vorstelle. Also gar nicht, könnte man sagen, da das alles ja sehr verschwommen und unklar ist und ich keinen Ansatzpunkt für eine Vorstellung habe. Ja, stimmt einerseits. Andererseits — gehauchte Gerüche sind dadurch, daß sie fast nichts sind, weitaus mehr als nichts. Sie sind nämlich DAS GROSSE ETWAS. So wie die Idee einer Stimme, die ich bei Bishops Beiträgen höre. Oder das Flaschengrün, das padeluun angeblich sieht, wenn er an Mailboxen denkt. Es gibt Tiefe in diesem Netz, unglaubliche Tiefe. Wenn man den Anekdoten über all die gescheiterten Existenzen im Netz glaubt, sind schon zu viele in diese Tiefe gefallen. Dieses Brett tritt den Beweis an, daß es im Netz Menschen gibt und strafft diese Tiefe ins Zweidimensionale. Wie gefaltetes Origamipapier glattgestrichen. Und wie das Gefühl, wenn man mit dem Finger über beschichtetes, glattgestrichens Origamipapier fährt, was im übrigen ein angenehmes und unbeschreibbares Gefühl ist.

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1 Während sich im Deutschen die Bezeichnung "MailBox" eingebürgert hatte, ist der englische Begriff für die selbe Einrichtung "bulletin board system" (kurz: bbs) viel treffender: Es handelt sich nämlich keineswegs nur um ein elektronisches Postamt, sondern hat mit den sogenannten "schwarzen Brettern" (engl. News) einen öffentlichen Bereich, der in vielfältige Themenrubriken unterteilt ist, und in dem alle Teilnehmer/innen nicht nur lesen, sondern auch schreiben können.

2 Giovanni Sartori in Panorama, 23. Juli 1994, zitiert nach Le Monde Diplomatique (1996) 3, S.9.

ena Tangens

 

Netzwerken im Sinne Eric Saties

Von Art d'Ameublement, ZaMir-Netz und einem kollektiven Europäischen Tagebuch

Was es auf den nächsten Seiten zu lesen gibt:

1) Gestatten, daß ich mich kurz vorstelle

2) Wie es von Erik Saties Musik zu Art d'Ameublement kam

3) ZaMir– ein Netz für den Frieden in Ex-Jugoslawien

4) Die Geschichte des ZaMir-Netzes im Zeitraffer

5) Und was ist das Besondere an ZaMir?

6) Vom Tagewerken: Zagreb Diary und Europäisches Tagebuch

1. Vorstellung

Dobar dan, guten Tag!

Mein Name ist Rena Tangens. Ich bin Künsterin, lebe meistens in Bielefeld und habe dort zusammen mit padeluun das Kunstprojekt Art d'Ameublement gegründet. In meinem Gepäck reiste das erste Modem, das eine documenta (8!) je gesehen hat. Und mit mir kamen die ersten Häcksen in den Chaos Computer Club. Seit 1987 organisiere ich die monatliche Public Domain – eine Veranstaltungsreihe, die sich Themen zu Zukunft und Technik, Wissenschaft und Politik, Kunst und Kultur widmet. 1987 wurde von aktiven Besucher/innen der Public Domain der FoeBuD e.V. gegründet und 1989 die MailBox Bionic, die bald ein wichtiger Knoten in den freien Bürgernetzen wurde. Ab 1991 arbeitete der FoeBuD am Aufbau des ZaMir-Netzes in Ex-Jugoslawien.

1996 schrieb ich meine wissenschaftliche Abschlußarbeit zum Thema "Das Leben im Netz", Ende 1999 erschien die lang erwartete 4. Auflage unseres deutschen Handbuchs zum Verschlüsselungsprogramm PGP (Pretty Good Privacy). Und irgendwann zwischendrin war ich als Artist in Residence in Kanada, stellte mit dem FoeBuD 6 Jahre lang selbst auf der CeBIT in Hannover aus, baute mit padeluun das babylonische Kommunikationskunstwerk wiwiwi-nang nang nang und beriet die Enquetekommission des Deutschen Bundestages in Sachen Medienkompetenz. Tja, und was hat Erik Satie mit all dem zu tun?

2. Art d'Ameublement

Erik Satie (1869-1925) war Avantgardist und komponierte Hintergrundmusik: keine E-Musik zum ehrfürchtig Lauschen – aber eben auch nicht Muzak, die heute allgegenwärtige Geräuschkulisse, die Menschen zum Konsumieren und Käfighühner zum Eierlegen anregen soll. "Musique d' Ameublement" – also "Musik wie Möbel" oder "Musik als Inneneinrichtung" – nannte Satie sein Konzept: Musik, die keine weitere Bedeutung haben sollte, als ein anderer Teil der Einrichtung des Raumes oder die Wärme oder das Licht. Das wohl bekannteste Stück dieser Art heißt Vexations. Es ist ein 1-Minuten-Stück, das aber auf Vorschlag des Komponisten 840 Mal wiederholt werden soll. Eine gepflegte Aufführung der Pages Mystiques – so heißen die Vexations inclusive Vor- und Nachspiel – dauert etwa 15 Stunden. Die Gäste müssen sich also Zeit nehmen. Damit es für sie angenehm ist, die ganzen 15 Stunden dabeizubleiben, muß der Raum entsprechend eingerichtet sein: kein Konzertsaal, sondern Stühle und Tische in lockerer Anordnung, Liegen zum Ausruhen, Bücher und Spiele, ein Buffet mit weißen Speisen und irgendwo mittendrin steht der Flügel. Anfangs sitzen alle still und hören aufmerksam zu; nach einiger Zeit löst sich die Spannung, die ersten beginnen, – zunächst noch flüsternd – sich zu unterhalten, einige stehen auf und gehen zu anderen Tischen, bald auch zum Buffet. Es wird gelesen, gespielt, diskutiert, geschlafen, der Sinn des Lebens erörtert, Pläne geschmiedet, Menschen lernen sich kennen … Gelassene und heitere Atmosphäre … Das Publikum wird zur Hauptperson – ohne daß die Menschen von irgendwelchen Akteuren (bzw. Animateuren) von einer Bühne aus dazu aufgefordert worden wären – es passiert einfach.

Wie Erik Satie seine Musik gemeint hat, so wollen wir Kunst machen: Kunst, die die Menschen nicht zu passivem Publikum macht, sondern ihnen einen Raum mit einer angenehmen, anregenden Atmosphäre zur Verfügung stellt, in dem sie selbst handelnde Subjekte sind. Diese Kunst hat keine Produkte, sie manifestiert sich im Prozeß.

Dieser Kunstbegriff war stets auch der Hintergrund meiner Arbeit für die elektronischen Bürgernetze. Mich interessiert dabei vor allem, wie diese Netze gestaltet werden müssen, damit sie zu einem Ort der Selbstverwirklichung, der Gemeinschaft, der Auseinandersetzung, des Austausches und des produktiven Lernens werden können. Und mich interessiert – frei nach Erik Satie – mit den Netzen einen entsprechend möblierten Raum anzubieten, in dem die Bedingungen dafür gegeben sind und die Menschen sich wohlfühlen.

Die Theorie genügte uns nicht –wir probierten es aus

Unsere MailBox1 in Bielefeld war von Anfang an ein Team-Projekt. Sie wurde von aktiven Besucherinnen und Besuchern der monatlichen Veranstaltungsreihe Public Domain gegründet und bekam von mir den Namen Bionic. "Bionik" heißt in der Wissenschaft, Prinzipien aus der Natur in die Technologie zu übertragen. Der Name läßt anklingen, daß diese MailBox mehr ist als ein Computer – sie hat Eigenleben und ist Teil eines sich selbst organisierenden Systems. Die Bionic hat ihren Platz in der Galerie "Art d'Ameublement" – sie war die erste MailBox in Deutschland, die in einen Kunstkontext gestellt wurde.

Das ZAMIR Transnational Network – MailBox-Projekt für den Frieden

"Za mir" bedeutet in den meisten Sprachen, die im ehemaligen Jugoslawien gesprochen werden, "für den Frieden". Das ZaMir-Netzwerk ist ein Computernetz von Friedensgruppen in der Balkanregion. In den Jahren des Krieges auf Kosten der Bevölkerung hat sich hier ein einzigartiges Kommunikationsmedium etabliert: ZaMir ist das einzige öffentliche Forum für den Dialog zwischen FriedensaktivistInnen aus Serbien, Bosnien, Slowenien, Kroatien und Montenegro. Mit einfacher Computer- und Telefontechnik wird selbst in der belagerten Stadt Sarajevo ein Netzwerkknotenpunkt betrieben.

Eric Bachman ist einer der Begründer dieses transnationalen Netzwerkes gegen den Krieg. Zusammen mit dem FoeBuD e.V. in Bielefeld organisiert er praktisch seit dem Ausbruch der Kriegshandlungen in den Republiken des ehemaligen Jugoslawiens den Nachrichtenfluß über Zensur- und Nationalismusbarrieren hinweg.

Sinn und Zweck des MailBox-Projektes ZaMir besteht darin, den Anti-Kriegs-, Friedens-, Menschenrechts-, nichtstaatlichen und Mediengruppen in den verschiedenen Ländern und Gegenden Ex-Jugoslawiens eine Möglichkeit zu geben, miteinander zu kommunizieren. Es sollte ihnen ermöglichen, weiterhin mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten.

Das Projekt traf auf eine Situation, in der Vorurteile, Haß und Angst zwischen Menschen und Völkern verschiedener ethnischer Hintergründe sich fast widerstandslos ausgebreitet hatte. In einer solchen Situation ist die Möglichkeit zur Kommunikation, mit der Menschen sich erreichen können, neue Bekanntschaften finden oder alte Freundschaften neu aufleben lassen können, von äußerster Wichtigkeit.

ZaMir dient nicht nur zum Austausch von Briefen, Nachrichten, Neuigkeiten und Ideen innerhalb der Friedensgruppen, sondern auch dazu, die Menschen in den Gebieten der Kriegsparteien wieder miteinander kommunizieren zu lassen. In diesem Rahmen bietet das Projekt nicht nur humanitären Organisationen, schulischen Betrieben und anderen nichtstaatlichen Organisationen einen Zugang, sondern ist auch dazu in der Lage, beispielsweise Flüchtlingen dabei zu helfen, sich gegenseitig wiederzufinden.

Kurze Geschichte des ZAMIR-Netzes

Als 1991 in Ex-Jugoslawien der offene Krieg ausbrach, wurden nahezu alle Verbindungen zwischen Kroatien und Serbien unterbrochen, z.T. durch Zerstörung der Infrastruktur, aber auch durch aktives Betreiben der jeweiligen Machthaber. Es war nun nicht mehr möglich, zwischen beiden Landesteilen hin und her zu reisen oder über die neue Grenze hinweg ein Telefongespräch zu führen. Auch das Postsystem brach während des Krieges zusammen. Kommunikation wurde nahezu unmöglich. Dies war besonders hinderlich für alle, die mit Leuten auf der anderen Seite aktiv zusammenarbeiten wollten, z.B. Hilfsorganisationen und Friedensgruppen. Um den Kontakt wiederherzustellen – sowohl untereinander, als auch mit dem Rest der Welt – und um ungefilterte Informationen aus diesen Ländern zu bekommen, wurde das ZaMir-Netz ins Leben gerufen.

Das ZaMir-Netz begann zunächst mit dem Projekt Communication Aid als Fax-Dienst: Von Belgrad aus wurden Nachrichten per Fax nach London geschickt, die von Menschen dort im Büro wieder ins Faxgerät gesteckt und nach Zagreb weitergeschickt wurden. Und umgekehrt. Warum dieser Umweg? Nun, Not macht erfinderisch: Die Auslandstelefonverbindungen funktionierten in Serbien und Kroatien zumeist noch, auch wenn die Direktverbindungen unterbrochen worden waren. So konnte der Kontakt wiederhergestellt werden. Doch dieses Verfahren per Fax war teuer in der Übertragung und umständlich durch die Weiterleitung von Hand. So wurde eine praktikablere Lösung ersonnen.

Eric Bachman, der seit vielen Jahren in der Nähe von Bielefeld und in der Friedensarbeit engagiert ist, war schon von Beginn des Konfliktes an regelmäßig in Jugoslawien. Er entdeckte über die Bielefelder MailBox Bionic die Möglichkeiten der Kommunikation per Computer und Modem. Hier mußte nicht mehr "handvermittelt" werden, sondern die Nachrichten suchten sich fast von selbst einen Weg zu den Empfänger/innen. Innerhalb kürzester Zeit arbeitete er sich in die Technik ein, sammelte Hard- und Software-Spenden und suchte in Jugoslawien Partner, mit denen er eine solche Vernetzung aufbauen konnte.

Es waren keine ausgesprochenen Computerfreaks, sondern eher politisch motivierte Menschen aus dem Umfeld der Kriegsgegnerkampagne in Zagreb und dem Zentrum für kriegsgegnerische Aktionen in Belgrad, die sich entschlossen, selber MailBox-Systeme aufzubauen. Im Juli 1992 wurde in beiden Städten je ein MailBox-System mit der deutschen Zerberus-Software eingerichtet: Die ZAMIRBG und die ZAMIRZG. "ZaMir" heißt "für den Frieden", BG und ZG sind die Abkürzungen für Belgrad und Zagreb. Auch hier wurde die Verbindung zwischen beiden Systemen über den Umweg Ausland realisiert, zunächst kurzfristig über die LINK-ATU-MailBox in Wien.

Serversystem und damit die Nachrichtendrehscheibe im Ausland wurde dann die Bionic in Bielefeld. In Ljubljana wurde die ZAMIRLJ installiert und im März 1994 nahm die ZAMIR-SA, die MailBox im stark umkämpften Sarajevo, ihren Betrieb auf. Im Oktober 1994 kam ein weiteres System in Pristina, Kosovo, die ZANA-PR, hinzu, womit das Netzwerk nun fünf MailBox-Systeme in Ex-Jugoslawien umfaßte, die eMails, UseNet News, das deutschsprachige /CL- und das Zerberus-Netz, APC und auch eine eigene Brettgruppe namens /ZAMIR anboten.

Ende 1994 wurde das ZaMir Transnational Network Mitglied im weltweiten Netzwerk der APC (Association for Progressive Communication). In Tuzla in Bosnien wurde ein weiteres System, die ZAMIR-TZ, eingerichtet. Weitere Systeme in Pakrac, Rijeka und Mostar wurden geplant. 1996 waren die Teilnehmerzahlen auf über 5.000 Gruppen und Einzelpersonen angewachsen.

1997 beendete der Open Society Fund die finanzielle Unterstützung des Projektes. (Die Stiftung des Milliardärs George Soros hatte dankenswerterweise einige Jahre lang Telefonkosten, Hardware und z.T. auch Honorar für Leute, die für ZaMir arbeiteten, bezahlt.)

Mittlerweile hatten die Leute vor Ort erhebliches technisches Know-How gesammelt – leider fehlten den meisten aber der Mut oder auch die Fähigkeiten, ein solches Projekt eigenverantwortlich zu organisieren, insbesondere eine eigenständige Finanzierung (durch Teilnehmerentgelte, Projektanträge bei anderen Trägern, Spendenaquisition) aufzustellen. So wurden nach und nach die meisten Netzknoten von den Betreibern aufgegeben. Das Feld wurde kampflos (jawohl!) kommerziellen Internet-Providern überlassen.

Einzig das ZaMir-System in Zagreb hat den Sprung in die Selbständigkeit geschafft. In seinem Umfeld entstand nicht nur eine Multimedia-Firma, sondern hier hat sich eine ganze Szene von Künstler/innen, Schriftsteller/innen, Journalist/innen und politisch Aktiven zusammengefunden.

3. Was war das Besondere an ZAMIR?

a) ZaMir arbeitete mit Low Tech und Low Cost.

Das von allen ZaMir-Systemen verwendete MailBox-Programm Zerberus begnügte sich auch mit Rechnern älterer Bauart. Reine Textnachrichten brauchen sehr wenig Bandbreite bei der Übertragung. Und auch die Telefonkosten wurden möglichst gering gehalten.

Während andernorts die Internet-Euphorie seltsame Blüten trieb und das World Wide Web mit Kommerz aller Art, Bildern, Sounds und Videoclips aufgeblasen wurde, als ob die Ressourcen unendlich wären, wurden die Systeme des Zamir Transnational Networks mit preiswerter Technik, wenigen Telefonleitungen und viel persönlichem Einsatz betrieben.

Die meisten Netzteilnehmer/innen arbeiteten im ZaMir-Netz mit sogenannten "Pointprogrammen" (auch Offline-Reader genannt). Das heißt, sie lesen und schreiben nicht 'online', sondern sie bestellen sich die für sie interessanten Themenbereiche bei ihrer MailBox. Diese Nachrichten werden dort zusammen mit der persönlichen Post als eine komprimierte Datei zur Abholung bereitgelegt. Das Datenpaket wird per Modem mit einem kurzen Telefonanruf auf den heimischen Rechner herübergeholt, die Verbindung sofort wieder beendet und dann in aller Ruhe 'offline' die Nachrichten gelesen und bearbeitet, ohne daß der Telefongebührenzähler rattert. Den Anruf bei der MailBox kann das Pointprogramm auch automatisch nachts zu den günstigen Telefontarifzeiten machen. Damit verteilen sich die Anrufe der Netzteilnehmer/innen über den ganzen Tag, sie sind auch viel kürzer und damit ist der Netzknoten gleich wieder frei. So sparen nicht nur die einzelnen Netzteilnehmer/innen erheblich Telefonkosten, sondern es spart auch Infrastruktur, denn so ist es möglich, sehr viele Menschen mit nur wenigen Telefonleitungen zu bedienen. In Zagreb z.B. wurden 1.300 Teilnehmer mit nur 3 Telefonleitungen bedient. Das ist kein unwichtiges technisches Detail, denn Telefonleitungen waren Mangelware: in Kroatien beispielsweise kostete die Anmeldung einer neuen Leitung nicht 100 DM (wie in Deutschland), sondern runde 1.500 DM – und es konnte Jahre dauern, bis sie tatsächlich installiert wurde.

b) ZaMirarbeitete dezentral und demokratisch.

Das ZaMir-Netz war nicht einfach nur ein günstiger eMail-Anschluß oder ein bestimmtes inhaltliches Angebot, sondern viel mehr, nämlich eine Gemeinschaft von Menschen, die sich engagieren – nicht in Parteien, aber im weitesten Sinne politisch. Gemeinschaft bedeutet, zusammenzuarbeiten, auch wenn mensch nicht derselben Meinung ist, die selbstgestellten Regeln zu achten und sich verantwortlich zu fühlen – nicht nur für die eigenen Taten, sondern auch für das Netz als Ganzes.

Eine solche Form des Zusammenlebens im Netz ist nicht einfach plötzlich da, sondern sie ist ein Ergebnis von vielen Jahren kontinuierlicher Aufbauarbeit. Die kulturellen und sozialen Erfahrungen, die im ZaMir-Netz als virtuelle Gemeinschaft gemacht werden konnten, waren intensiv, beglückend, lehrreich, sicherlich auch kontrovers, frustrierend, anstrengend – und vor allem eins: authentisch.

Ich hebe das hervor, weil nach US-amerikanischer Denkungsart Bürgerbeteiligung offensichtlich nur noch als Lobbyarbeit von Interessensgruppen vorstellbar ist, und im Zuge der Konvertierung des Internets in eine große Einkaufsstraßenfassade nichts dem Zufall, sondern alles dem Markt überlassen wird. Konkret: Virtuelle Gemeinschaften ("Virtual communities") sind mittlerweile als Marketinginstrument entdeckt worden. Sie dienen im wesentlichen drei Zielen: 1. Die Nutzer/innen loyal zu einer Firma zu halten. 2. Die Nutzer/innen loyal zu einem Produkt zu halten. 3. Aufgrund der vertraulichen Atmosphäre möglichst viele persönliche Daten von den Nutzer/innen zu erhalten, die sie ansonsten eher nicht preisgeben würden.

c) Es ging um echte Interaktion.

Unzählige Dinge werden heutzutage "interaktiv" genannt – nur wenige sind es. "Surfen" im World Wide Web zum Beispiel unterscheidet sich zumeist nur graduell vom "Zappen" quer durch die TV-Programme mit der Fernbedienung. Es kann hier wie dort etwas ausgewählt werden, aber es handelt sich um Alternativen, die von anderen vorgegeben wurden. Solch ein Angebot ist Multiple Choice. Es schafft nur eine scheinbare Individualität. So werden Menschen zu Knöpfchen-drückenden Affen.

Je perfekter etwas designt ist, desto geringer ist die Neigung, daran etwas zu ändern, es zu bearbeiten, andere Interpretationen oder Denkansätze zu erwägen. Interaktiv ist nur etwas, das sich auch selbst ändern kann.

Die Möglichkeit, zwischen vorgegebenen Alternativen auszuwählen, schafft nicht mündige Bürgerinnen und Bürger, sondern bestenfalls zufriedene Konsumenten.

Für eine moderne demokratische Gesellschaft geht es aber vielmehr darum, die Lust zum eigenen und gemeinschaftlichen Handeln zu fördern. Damit das Medium echte Teilnahme ermöglicht, müssen demokratische Strukturen auch innerhalb der Netze verwirklicht werden. Abstimmungsrituale sind dafür keine Garantie. Giovanni Sartori, Politologe an der Columbia Universität, sagt:

Eine virtuelle Demokratie ist eine nichtexistierende Demokratie. Direkte Demokratie dagegen wurde immer als eine Demokratie des Dialogs gedacht. Entscheidungen werden getroffen, indem man miteinander spricht, indem man die Ideen der anderen anhört und seine eigenen erläutert. Wenn diese Vorgehensweise zu einem Druck auf die Fernbedienung verkümmert, erreichen wir keine Demokratie, sondern nur eine Willensbekundung. Die unmittelbare Interaktivität verliert ihren Inhalt und wandelt sich zu einem gefährlichen Multiplikator von Dummheit.2

In der Tat ist jeder Mensch kompetent – u.a. in dem Bereich, der ihre Arbeit, sein Hobby, ihre speziellen Interessen oder seinen Alltag betrifft. Und die meisten Menschen haben nicht nur ein Informations-, sondern auch ein Mitteilungsbedürfnis. In den Bereichen, wo sie sich auskennen, tauschen sie sich gerne mit anderen aus, und wenn sie ernstgenommen und gefragt werden, geben sie auch gerne Auskunft. Dafür müssen Netze aber wahrhaft "interaktiv" gestaltet sein: es muß für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen gleichberechtigten Rückkanal bieten. Und sie müssen einen Rahmen geboten bekommen, in dem sie sich willkommen fühlen, sich zu äußern. Und so kommen wir zum Brett /T-NETZ/TAGEBUCH.

4. Vom Tagewerken: Zagreb Diary und Europäisches Tagebuch

Bei dem Hineinwachsen eines Menschen in die Kultur der ihn umgebenden Gesellschaft spielen die Medien eine große Rolle. Denn Geschichten erklären uns die Welt und der wichtigste Geschichtenerzähler in unserer Gesellschaft ist heutzutage das Fernsehen, nicht mehr Eltern, Schule oder Kirche. Interessant ist, welche Rolle persönliche Erfahrungen gegenüber dem Medienkonsum spielen.

Grundsätzlich ist der Einfluß der Massenmedien auf Menschen in den Bereichen schwächer, in denen sie mehr persönliche Erfahrungen haben. Aber es ist durchaus auch möglich, daß Menschen annehmen, daß ihre eigene Erfahrung untypisch ist, und daß die im Fernsehen dargestellte Version oder das kulturelle Stereotyp "richtiger" ist.

Wenn Menschen selbst beginnen, anderen ihre eigene(n) Geschichte(n) zu erzählen, eignen sie sich damit nicht nur die eigene Vergangenheit an, sondern sie werden selbst ein Teil lebendiger Kultur.

Wam Kat, holländischer Friedensaktivist in Zagreb und Betreuer des dortigen ZaMir-MailBox-Systems, begann Anfang 1992 sein Zagreb Diary, ein öffentliches Tagebuch in den Netzen (zunächst im Brett /APC/YUGO/ANTIWAR, dann zusätzlich im Brett /CL/EUROPA/BALKAN) zu schreiben. Wer dieses Tagebuch liest, bekommt einen anderen Eindruck von dem Krieg in Jugoslawien als aus den Berichten in der Zeitung oder dem Fernsehen. Wam Kat gab in seinem Zagreb Diary ausführliche Schilderungen der politischen Situation, der Kriegshandlungen, wie sie ihm von Leuten direkt berichtet wurden und kommentierte auch die Berichterstattung der lokalen Medien. Er beschrieb aber auch, was er den Tag über so getan hatte, seine Arbeit, welche Menschen er getroffen hatte, welche Musik er gehört hatte. Dabei ist es gerade die Schilderung der allgemeinen Lebensumstände und der alltäglichen Begebenheiten, die sich beim Straßenbahnfahren, Einkaufen oder beim Besuch von Freunden zutragen, die Außenstehenden ein Bild von dem normalen (oder doch nicht ganz normalen) Leben in Kroatien und Bosnien vermittelt.

Davon angeregt initiierte der in Hamburg lebende Grazer Autor Peter Glaser Anfang 1993 die Einrichtung des Brettes /T-NETZ/TAGEBUCH. Hintergrund war eine Veranstaltung des Literaturhaus Wien und des ORF-Kunstradio mit dem Titel Worte brauchen keine Seiten, zu der er gebeten worden war, etwas beizusteuern. Sein Vorschlag war das Europäische Tagebuch, ein fortlaufendes Projekt, das an keinen Ausstellungstermin gebunden ist und an dem alle teilnehmen können, die über einen längeren Zeitraum mitschreiben wollen.

In seiner öffentlichen Einladung zur Mitarbeit an dem Projekt schreibt er:

Zu der Idee des "Europäischen Tagebuchs":

Durch Verbreitung über elektronische Medien zur "Nachricht" geadelt, erzeugen heute Agenturmeldungen den Anschein, die "wirkliche Wirklichkeit" widerzugeben. Den jeweils speziellen Arten von Sprachgebrauch, die sich "Politik", "Wirtschaft" oder "Wissenschaft" nennen, soll durch das "Europäische Tagebuch" eine Vielfalt individueller Realitäten zur Seite gestellt werden, und zwar selbstbewußt.

Ich finde, es gibt ein mindestens genauso gültiges Bild der Welt, wenn ich lese, was Leuten aus den verschiedenen Gegenden so in den Tag hinein geschehen ist, als wenn ich dem Murmeln der gewöhnlich gut unterrichteten Kreise folge.

Um Tagebuch zu schreiben, muß man kein Künstler sein. Ein wenig Beobachtungsgabe reicht aus. Zu den Vorteilen des Tagebuchs gehört, daß Inhalt und Stil freigestellt bleiben. Es geht um die Wahrnehmung der Welt aus erster Hand. Persönliche Gefühle, Gedanken, alltägliche Beobachtungen, aber auch Medienereignisse und Themen der "öffentlichen Diskussion".

[…]

Viel Spaß beim Tagewerken

Peter Glaser

Die so entstandenen und im Netz veröffentlichten Artikel sind subjektive Momentaufnahmen, erfrischend konkret und anschaulich. Klar, daß sie die Welt aus einem subjektiven Blickwinkel zeigen und nicht *die Wahrheit* darstellen. Viele Geschichten von vielen verschiedenen Menschen zusammen aber formen in ihrer Gesamtheit ein Mosaik, das der komplexen Wirklichkeit möglicherweise näher kommt als die verdichteten "Fakten" in Jahrbüchern vom Typ "Das war 1993". Diese Tagebucheinträge sind Teil eines kollektiven Gedächtnisses. Für mich sind sie Geschichte aus erster Hand und Dokumente von zeitgeschichtlichem Wert.

Schließlich und endlich sind die Geschichten außerordentlich spannend zu lesen. Und deshalb möchte ich nicht länger über diese Texte schreiben – sondern verabschiede mich und überlasse Sie der Lektüre einiger Kostproben.

5. Texte aus den Tagebüchern

Nachricht Nummer : 244

Nachricht von : WAM@ZAMIR-ZG.ZER.sub.org

Betrifft : Zagreb Diary

Erstellungsdatum : 28.07.1992 03:14:00 S+2

Kennung : 5ih8DseJtC@ZAMIR-ZG.zer.sub.org

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Zagreb Diary

27-07-1992

Dobar Dan,

HaHaHaHaHaDeZe HaHaHaHaHADeZe ……. (jiggle for HDZ), it is elections, every where by now, on television all of the 4 big ones, at least in their elections budget and financial possibilities, HDZ, HSLS (Social Liberals), HNS (I can't say any else then Savka's party) and last but not least, maybe not in size, but surely in noise, HSP (from Paraga), have their own commercials.

[…]

HDZ is spending 2 million Dmarks in this elections, HSLS and HNS must also at least spend 1 million or more and HSP a little less than a million, but they also have their own army which makes propaganda. The injection in local and foreign printing houses must have been enormous. I often have the idea that they don't know where to put them in Zagreb anymore, so every morning shop keepers are busy to get posters from their shopwindows. And if they are unlucky they have had a visit from 3 different parties over night, we obvious try to glue over the first ones.

But it is an adventure, I saw an old lady, I think around 60 or more with a bag full of self made posters for Tudjman in the Center of town putted her posters up with cellotape on walls, that's not the best way. Or a father with his two little sons, 8 and 10 I guess, who was busy to glue for HSLS, he did it for his first time, that was clear, he had a small cup with some wall paper glue, I think, a very small paintbrush and firstly if looks if he wanted to paint the wall (just around the corner of a main street, a little in the dark), but after some time he saw that his work of art looked well enough to start to but the poster on. He glue it up, turn it to the right a little, then a little to the left, took some steps distance, turn it a little more to the left and a little down. Etc. the whole show took about half an hour for one poster and seen the bag one of his sons carried they had enough to kill the whole free Sunday.

[…]

With Love from ZA-mir-GREB,

Wam:-)

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Nachricht Nummer : 106

Nachricht von : WAM@ZAMIR-ZG.ZER.sub.org

Betrifft : Zagreb Diary 17 May 1993

Erstellungsdatum : 19.05.1993 09:07:00 S+2

Kennung : 518U0U-ZtC@ZAMIR-ZG.zer.sub.org

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Realname: Wam Kat

Zagreb Diary 17 May, 1993

Dobar dan,

[…]

In the buses and trams you often experience such small little scenes which remind you that you are not in a real normal city, even when it looks that way. This morning I was sitting behind a young man who had a coat on with on it something different than the normal American University or baseball signs, which you often see, it had the words "This is a donation from the West Coast Red Cross to Croatia " on it. Thanks to the people in the West Coast I would say, but such a person in such a coat is marked, everybody knows his status just by looking at his coat. I was used to boxes with all kind of marks on it from all kind of humanitarian organisations, but something like this I only had seen so far on blankets, never on clothes.

One tram stop a war veteran enters the tram, he missed his right leg and hand. When the tram starts to drive he starts to speak loudly to all the people, pointing on his missing body parts. Unfortunately I can't follow all what he is saying, but the point is clear he lost his ability to work in his offer to help the his country and is now without income. After his speech he goes through the tram to collect money, most people have suddenly more interest for the scenery outside and look away. Which is also very understandable, most people in the tram have to same problem as this man, namely how to survive with hardly nothing. That outside the most expensive cars pass by and the restaurants are filled up again with people who can effort it doesn't mean that most of the people in Croatia have a good income. The people in the tram look ashamed.

The financial for war veterans is not cleared yet, but more problematic is the situation for young mothers with small children, who lost their husband or friend in the war. Especially those who lost them in the early days of the war when the situation was so chaotic that nobody knows who was in the army and at the front and who wasn't, people went as volunteers and registration wasn't particular the first thing to think about. It will take years to find out what happened. All that time people have to survive from small paid legal or illegal jobs, charity gifts or family.

[…]

Bok I Mir from Zagreb,

Wam

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Nachricht Nummer : 110

Nachricht von : WAM@ZAMIR-ZG.ZER.sub.org

Betrifft : Zagreb Diary 20 May, 1993

Erstellungsdatum : 19.05.1993 22:36:00 S+2

Kennung : 51CVG_bJtC@ZAMIR-ZG.zer.sub.org

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Realname: Wam Kat

Zagreb Diary 20 May, 1993

Dobar dan,

[…]

For the first time in the history of this war the main bakery in Sarajevo stopped to work, already for more days there is again no water, no electricity and gas in the town and the bakery, which kept on working through the whole period run out of oil for their generators. The chief was really sorry, since not only their is no bread, but this going on producing is important for the spirit in the town. Never the less what happens we go on as normal as we can.

It is also spring in Sarajevo, those who survived the war in the town so far are starting to use every free part of the town to seed vegetable in order to produce their own food. And that in a city which is slowly starting to have some kind of normal life, if you have money enough you can go to open pubs on sniper alley, or buy eggs for 3 DEM or….. but the shelling and shooting is not over yet. It is still possible to get killed if you are not fast enough, therefore the making of a video clip as a group in Sarajevo did for their song "Crossroad of Sarajevo" is remarkable. The clip is fantastic and it is rather unbelievable that it is made under conditions which are what they are. The musicians running with their instruments through the street hoping for a safe place to shoot another few seconds of film. The end line "I can never find out why" is indeed a question which nobody ever will be able to

answer.

[…]

Bok I Mir from Zagreb,

Wam

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Nachricht Nummer : 81

Nachricht von : EL.AWADALLA@LINK-ATU.ZER.sub.org

Betrifft : el awadalla, wien, 8.5.93

Erstellungsdatum : 09.05.1993 00:47:00 S+2

Kennung : 14.3593L3EL@AWADALL.zer.sub.org

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heute hörte ich wiedereinmal im radio von selbsternannten republikenund parlamenten in jugoslawien. und wenn der orf "selbsternannt" sagt, meint er das mindestens abwertend. es gibt daher wohl selbsternannteund richtige republiken.

in österreich wurde ja auch einmal die republik ausgerufen. da ich noch nie davon gehört habe, daß die internationale behörde zur genehmigung von republiksausrufungen, die usa, die eg, die uno, der papst, die internationale kommission zur ernennung von parlamenten oder gar die habsburger das erlaubt hätten, handelt es sich bei österreich wohl auch um eine selbsternannte republik (oder wenigstens war die 1. republik soeine).

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Nachricht Nummer : 89

Nachricht von : EL.AWADALLA@LINK-ATU.ZER.sub.org

Betrifft : el awadalla, wien, 14.5.93

Erstellungsdatum : 14.05.1993 21:57:00 S+2

Kennung : 29.35EUTAGL@AWADALL.zer.sub.org

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gestern habe ich ein schönes stück straßenkunst gesehen. und da weder die polizei noch das kulturamt dabei war, schritt niemand ein und der künstler wurde auch nicht betreten, mußte keine strafe zahlen oder gar einsitzen.

denn straßenkunst in wien darf nur zwischen 17 und 21 uhr stattfinden, nach vorheriger anmeldung und in genau festgelegten straßenabschnitten. insgesamt gibt es in wien zehn erlaubte plätze. da stehen dann die musikerInnen (andere straßenkunst kennt das kulturamt nicht) und haben ein taferl dabei, das sie als des musizierens berechtigt ausweist.

zurück zum gestrigen kunststück: da fährt ein mann mit seinem fahrrad auf dem gehsteig auf dem hinterrad. für öffentliches pubertieren scheint er mir doch schon etwas zu alt, denke ich noch. als ich näherkomme, sehe ich, daß er mit seinem hinterrad in eine kleine wasserlacke gefahren ist und daraus nun eine blume zeichnet, eine richtig schöne blume mit langem stengel, fünf geschwungenen blütenblättern und einem stern als blütenboden, alles ohne einen wassertropfen zuviel. dann fährt er einfach weiter, nachdem er straßenkunst begangen hat.

Nachricht Nummer : 75

Nachricht von : J.OHLIG (Jens Ohlig)

Betrifft : 05.05.93 – /T-NETZ/TAGEBUCH

Erstellungsdatum : 05.05.1993 20:09:00 S+2

Kennung : 50GLo00BJe2acya@bionic35.bionic.zer.de

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Bielefeld, 5.5.1993, 22:00 Uhr oder so, Jens Ohlig.

Alle reden von der Metakommunikation, ich tu's einfach. Ich mag dieses Brett, /T-NETZ/TAGEBUCH. Els Beiträge aus Wien lassen bei mir im Gehirn besonders angenehme Gerüche einer fremden Wohnung entstehen. Ich stelle mir Wien so vor, wie ich mir diesen Geruch vorstelle. Also gar nicht, könnte man sagen, da das alles ja sehr verschwommen und unklar ist und ich keinen Ansatzpunkt für eine Vorstellung habe. Ja, stimmt einerseits. Andererseits — gehauchte Gerüche sind dadurch, daß sie fast nichts sind, weitaus mehr als nichts. Sie sind nämlich DAS GROSSE ETWAS. So wie die Idee einer Stimme, die ich bei Bishops Beiträgen höre. Oder das Flaschengrün, das padeluun angeblich sieht, wenn er an Mailboxen denkt. Es gibt Tiefe in diesem Netz, unglaubliche Tiefe. Wenn man den Anekdoten über all die gescheiterten Existenzen im Netz glaubt, sind schon zu viele in diese Tiefe gefallen. Dieses Brett tritt den Beweis an, daß es im Netz Menschen gibt und strafft diese Tiefe ins Zweidimensionale. Wie gefaltetes Origamipapier glattgestrichen. Und wie das Gefühl, wenn man mit dem Finger über beschichtetes, glattgestrichens Origamipapier fährt, was im übrigen ein angenehmes und unbeschreibbares Gefühl ist.

Dieser Text ist hier nur zur privaten Lektüre verfügbar.

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Sie sich bitte mit der Autorin.

1 Während sich im Deutschen die Bezeichnung "MailBox" eingebürgert hatte, ist der englische Begriff für die selbe Einrichtung "bulletin board system" (kurz: bbs) viel treffender: Es handelt sich nämlich keineswegs nur um ein elektronisches Postamt, sondern hat mit den sogenannten "schwarzen Brettern" (engl. News) einen öffentlichen Bereich, der in vielfältige Themenrubriken unterteilt ist, und in dem alle Teilnehmer/innen nicht nur lesen, sondern auch schreiben können.

2 Giovanni Sartori in Panorama, 23. Juli 1994, zitiert nach Le Monde Diplomatique (1996) 3, S.9.

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