Schreiben/Lesen als Netzwerk-Aktivitaet

Die Rache des (Hyper-) Textes an den Bildmedien

von Heiko Idensen

Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl ineinander verschachtelter Bildschirme zusammen, auf denen die verschiedenen Medienströme zusammenlaufen:

Ein Fernseher implodiert in einer nicht enden wollenden Schleife (lief eben nicht noch der Showdown einer Direktübertragung: ein Fadenkreuz legt sich über ein Gebäude – die Bibliothek von Sarajewo [1]? – die Bombe trifft ihr Ziel mit programmierter Selbst-Sicherheit) – ein Mausklick startet die Metamorphose eines Fernseh-Schirms in einen Standard-Computer-Screen, eine Weltkugel dreht sich, unendlich lange Ladezeiten für ein kleines Icon, das ein sich permanent aufblätterndes Buch darstellt. Schreibmaschinen oder Maschinengewehrsalven dröhnen im Hintergrund. Nichts weiter? Ich klicke auf das Buch … die Weltkugel dreht sich wieder – jetzt ist es noch deutlicher zu erkennen, es sind Netze [2] , die sich um die Welt legen – ein Text erscheint:
"Das Computernetz befreit den Autor von seinem Verleger. Ungehindert […] kann ein schreiblustiger Autor Buch nach Buch direkt ins Netz werfen. […] Die Sätze wollen nicht länger eine Verbindung mit Vorgängern und Nachfolgern eingehen. Nach jedem Satz kann im Prinzip jeder andere folgen […] Virtuelles Schreiben bedeutet: Sprache produzieren, die nur im Arbeitsspeicher existiert. […] Der real existierende Cyberspace ist ein Text-based Environment, nicht als Folge einer kulturellen Entscheidung, sondern einer technischen Begrenzung […] Der flüchtige Computext ist die ironische Rückkehr der Schrift, nachdem das Wort im Zusammenhang der Bildkultur für tot erklärt worden war […] Virtuelles Schreiben ist die Antwort der Schrift auf die Designermedien, weil es keine Form sucht, um sich zu materialisieren […] sondern um sich stattdessen im elektronischen Universum einen neuen Raum zu schaffen, um überallhin gelangen zu können." [3]
Auf der Oberfläche dieses Textes sind einige Worte blau markiert [4], andere rot. Im neuzeitlichen Informationsdesign der "Softmoderne", des Infotainments scheinen die Worte ihre alte Unschuld verloren zu haben – sie blitzen am Bildschirm als aktive Programmelemente des Hypertextes auf, als hotspots, keywords, Absprung-Marken saugen sie den Leser nicht mehr in den Text hinein, sondern stoßen ihn vielmehr ab und schleudern ihn in das weite Feld digitaler Kommunikationsstrukturen hinaus.

Medienwechsel: Druckkultur – digitale Medienwelten

Versammelten, speicherten und bewahrten die Texte der Druckkultur noch Informationen und poetische Energie in einem geschlossenem Korpus, so sind die Dokumente des Netzwerk-Kultur eher exzentrisch, verweisen auf andere Texte, Archive, Medien, Server …
Leser und Schreiber sind jetzt mit denselben Maschinen und tools angeschlossen, schreiben und lesen gleichzeitig an einer über die ganze Welt verteilten und zerstückelten Textur [5]: Copy/Paste … Send/Receive …
Die Wissensarchitekturen von Bibliotheken [6], Universitäten, Konferenzen, persönlichen Bücherregalen, Schreibtischen, Buchhandlungen, Zeitschriften … lassen sich – mehr oder weniger komfortabel – direkt auf dem Bildschirm realisieren.
Während sich die Gedankenbilder der Moderne noch hauptsächlich auf den Oberflächen von Buchseiten [7] vollzogen, spielen sich postmoderne Denk-, Forschungs- und Einbildungsprozesse direkt auf oder vor Monitoren ab – und die 'Literatur' des Informationszeitalters wird zu einem Netzwerk untereinander verknüpfter Dateien.
In der Druckkultur blieben die produktiven Momente der Entstehung von neuen Text-Kompilaten, Versionen und Konstellationen ein Privileg der Schreiber – die virtuell 'online' [8] mit der Literatur, der Wissenschaft, dem kollektiven Gedächtnis waren. Der universelle User hat jetzt alle Operationsmöglichkeiten der Recherche, der Verknüpfung und der Re- Kompilation von Texten und Dokumenten ganz konkret auf seinem Terminal zu Verfügung – die Frage ist nur, ob er diese auch aktiv als Kulturtechnik nutzen kann.
Während das Ziel des 'reinen' (offline) Text-Editings [9] am Computer in der Visualisierung und Gestaltung von Ideen/Gedankenbildern liegt, öffnet sich im online-Schreiben [10] der Schreib-Raum in ein kommunikatives und soziales Netz-Werk und verläßt somit vollständig die Darstellungs- und Vermittlungsparadigmen der Schriftkultur.
Der privilegierte geschützte (von den Experimenten der literarischen Moderne destruierte und von der Postmoderne unendlich ausgeweitete) 'innere Schreibraum' des einzelnen 'Users' öffnet sich in eine vernetzte Wissens- Architektur hinein. Hier entstehen Zonen[11] , in denen die bürgerlichen Trennungen von privaten und öffentlichen Räumen aufgelöst werden.
Online-Texte glänzen weniger durch stilistische und rhetorische Figuren oder den Gebrauch metaphorischer Formulierungen, sondern eher durch kontextbezogene Aktivitäten, Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Ebenen, Querverbindungen, Schnelligkeit des Austausches – sie thematisieren den Raum zwischen verschiedenen Text-Fragmenten – inszenieren und bearbeiten intertextuelle Strukturen.
Das ist nun freilich nichts neues.

'Hoch die internationale Intertextualität!'

Jeder Text schreibt sich ein in ein intertextuelles Ensemble künstlerischer / kultureller / formaler / kanonischer / biographischer Konstellationen.
Jedes Wort produziert Bedeutungen erst im Kontext der umgebenden sprachlichen Einheiten – alles Geschriebene ist 'Zitat': Entwendung gelesener Schriften.
Neu ist allein die konkrete Zusammenschaltung sämtlicher Lese- und Schreibvorgänge im Netz – auf einer einzigen Oberfläche. Die Intertextualität [12] der Druckkultur ist eine virtuelle, in literarischen Texten explizit hergestellte, produzierte. Die Intertextualität im Netz ist konkret, flach, pragmatisch, real(istisch).
D.h. die Dokumente/Fragmente 'treffen' sich tatsächlich – ein link[13] führt tatsächlich zu einer (oder mehreren) Referenzstelle(n) im selben Text (vgl. die Fußnoten!) oder in anderen Texten.
Die Poetik eines link liegt keineswegs in der bloßen Anspielung, in einer metaphorischen oder impliziten Bezugnahme, sondern vollzieht sich in einem wirklichen Sprung, einer tatsächlichen Koppelung – eine Poetik des Transports. (Was nichts über die 'Qualität' oder Literarizität aussagt – ausgedruckt sind Netzwerktexte zumeist langweilig und 'nicht lesbar'.)
Deshalb ist das Schreiben und Lesen im Netz zwar strukturähnlich zu literarischen Produktions- und Rezeptionsformen – aber im Netz geschieht Lesen und Schreiben gleichzeitig auf einer Oberfläche, es gibt außerdem keine Hierarchisierung zwischen Primärtexten und Sekundärtexten. Darüber hinaus verschwinden die Unterschiede zwischen Produktion und Rezeption, so daß etwa der Leser im Netz Fußnoten, Randbemerkungen und Kommentare in die Netztexte einfügen kann, und damit Funktionen übernimmt, die im Informations- Kreislauf der Buchkultur nur den Autoren oder Herausgebern bzw. den Kommentatoren und Kritikern zukommen.

Home-Page

Das Abenteuer des virtuellen Schreibens und Lesens kann im Prinzip überall anfangen. Die leere Seite gibt es nicht mehr. Der Bildschirm ist immer schon bevölkert mit Zeichen, Menus, Icons, Platzhaltern, Demotexten, Beispiel-Layouts, Hilfe- Buttons …
Das Lesen und Schreiben im Netz[14] hinterläßt endlose history-Listen (in denen alle bereits besuchten Orte, Seiten, Worte genaustens verzeichnet sind), hotlists (Lesezeichen[15], besonders markierte Stellen) und temporär auf der eigenen Festplatte niedergelegte Text-Fragmente, die dort einer Weiterverarbeitung harren.
Aber das A und O in diesem Dokuversum[16] untereinander vernetzter Texte sind die Home-Pages [17]: Ausgangsseite/Abflugterminal der eigenen Leseabenteuer (mit den Adressen der am häufigsten besuchten 'Locations') auf Seiten der Leser bzw. Empfangsseite/Inhaltsverzeichnis der jeweiligen WWW-Sites auf Seiten der Anbieter. Die Home- Page ist also einerseits eine Erweiterung der Desktop-Oberfläche [18], die die Absprungorte zu verschiedenen Netzwerk- Projekten verzeichnet – vergleichbar vielleicht mit der Ansicht eines Bücherregals, auf dem die verschiedensten Medien zur Entnahme bereitstehen. Im Netz selbst stellen sie das Aushängeschild der jeweiligen Projekte dar, vergleichbar mit Titelseiten von Büchern, mit Schaufenstern von Buchhandlungen/Videoshops oder Start- und Demo- Bildschirmen von Programmen, die eine Übersicht der hier zu lokalisierenden Dokumente und Projekte ins Auge springen lassen. Home-Pages fordern entweder zum Eintreten auf oder veranlassen den umherschweifenden Leser zum Weiterreisen.
Als ästhetisches Stilmittel finden sich solche Ausgangs- und Knotenpunkte künstlerischer Prozesse in Werken und Genres, die im weitesten Sinne einer Poetik des offenen Kunstwerkes[19] zuzurechnen sind.
Als strukturelle Modelle – interfaces – für solche Konstellationen funktionieren bevorzugt räumliche Formationen, die asynchrone Vernetzungen verschiedener Materialien, Medien und Handlungsprozesse zulassen: Landkarten, wie etwa der (imaginierte) Plan einer Stadt oder eines Hauses in der klassischen Gedächtniskunst (als kulturelle Speicherplätze), die sich in vielfältiger Weise auch in der Literatur wiederfinden: etwa bei James Joyce [20], der den ganz normalen Tag des 16. Juni 1904 auf den Stadtplan von Dublin projiziert, oder der Querschnitt durch ein Pariser Wohnhaus [21] , das als Home-Page für einen Roman dient, in dem die Technik des mise en abyme – verbunden mit vielfältigen Katalogisierungen und Indexlisten – topographisches Lesen ermöglichen.
Was machen eigentlich die zwanzig bis dreißg Millionen Menschen, die über zwei bis drei Millionen Computer weltweit an das Internet angeschlossen sind oder die 'unzähligen' User, die über alternative, teils lokale Netze (Fidonet, Z-Net u.a.) an Mailboxen[22] angeschlossen sind?
Das, was sie immer am Computer tun:

– Sie lesen und schreiben.
– Sie senden und empfangen.
– Sie spielen Theater (innere Bühne und Desktop-Interaktion).
– Sie suchen …

Die Kulturtechniken des Schreibens und Lesens spielen sich nicht erst seit dem Aufkommen des Computers in sozialen, kulturellen und medialen Netzwerken [23] ab.

Enzyklopädie: Baum des Wissens

Als Denis Diderot und Jean Le Rond d'Alembert am Vorabend der französischen Revolution mit dem Projekt Enzyklopädie ein universelles Wörterbuch der schönen und mechanischen Künste zusammentragen, ist dieses Unternehmen nur als ein kooperatives Schreibprojekt unterschiedlichster Experten zu bewerkstelligen. Die Vernetzung der einzelnen – alphabetisch geordneten Wissensbausteine – geschieht über die Darstellung eines Wissensbaumes[24]. Auf dieser 'Weltkarte des Wissens' können die verschiedenen Wissensgebiete überblickt werden, so daß Zusammenhänge, Verzweigungen, Hierarchien der einzelnen Wissenspartikel deutlich werden. Im Gegensatz zum linearen Lesen arbeitet man sich durch die Enzyklopädie mittels sachbezogener, struktureller und sprachlicher Verweise.[25] Der Leser wird somit zum aktiven Bestandteil der Wissensorganisation. Er kann selbst – unterstützt durch Karte und alphabetische Register – eigene Wissenspfade abschreiten.
Gerade die Tafeln und Abbildungen [26] der Enzyklopädie setzen neue Standards im Wissensdesign und tragen wesentlich zur praktischen Umsetzung und Anwendung des Wissens – vor allem in den Bereichen Handwerk, Kunst und Buchdruck bei.
Die Enzyklopädie projizierte den klassischen Baum des Wissens auf eine Landkarte, um Verbindungslinien und Knotenpunkte zwischen den unterschiedlichen Wissenschaften aufzuzeigen. Auf den Oberflächen informationsverarbeitender Environments werden diese Konzepte in Verfahrensweisen zum Verknüpfen und Prozessieren von Ideenobjekten weiterentwickelt:
Experimentelle literarische Verfahren wie cut- up, intertextuelle Verknüpfungen, Verschachtelungen, Labyrinthstrukturen dringen als diskursive Methoden in den Wissensraum ein, beschleunigen die allgemeine Zirkulation und das Zusammenfließen von Informationen aus unterschiedlichen Bereichen, schaffen Anschlußmöglichkeiten und Schnittstellen zu anderen Wissensgebieten. Kurzschlüsse und Interferenzen zwischen Diskursen werden zu produktiven Feldern, in denen sich Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen abspielen.
Das Denken selbst ereignet sich in den Zwischenräumen, im Übergang von einem Gebiet in ein anderes. Wissen, wissenschaftliche Forschung, ja selbst der Akt des Lesens können nicht mehr bloße Aufnahme gegebener Informationen sein, sondern entstehen prozessual im Anzapfen der im Netz zirkulierenden Informationspartikel.
Die Kartographie der Computerkultur verzeichnet durchaus einige Projekte, die vom Anspruch, vom Engagement der Beteiligten und von den sozialen und kulturellen Vernetzungsprozessen, die sie begleiten und auslösen, einen enzyklopädischen Charakter haben.

Projekt Gutenberg

Das Projekt Gutenberg stellt in Kooperation mit anderen Initiativen einen öffentlichen Netz- Zugriff auf digitalisierte Bücher zur Verfügung, deren Copyright abgelaufen ist:

"Unser Ziel ist es, bis zum Dezember 2001 eine Trillion elektronische Texte verteilt zu haben – d.h. 10.000 Titel an hundert Millionen Leser. Elektronische Texte, die sowohl von Menschen, als auch von Maschinen gelesen werden können."[27]

Der Gebrauch einer solchen ungeheuren Textmasse in 'reinem' ASCII-Format (d.h. ohne jegliche typographische Auszeichnungen – fette Überschriten, kursive Zitate – oder hypertextuelle Verweisstrukturen wie Inhaltsverzeichnisse, Register, Schlagworte) scheint allerdings begrenzt – diese Art von 'flachen Texten' eignen sich höchstens als Recherche-Material, das mit Volltextsuche nach bestimmten 'Stellen' durchforstet wird, die dann zu einem gezielt ausgewähltem Zitatenschatz- Depot [28] ausgebaut werden können.
Da ist Raymond Queneau konzeptuell schon weitergegangen, indem er dem Leser eine Maschine zur Generierung von hundert Milliarden Sonetten abgeboten hat:

Sonett-Maschine

Nachdem im Verlauf der Literaturgeschichte unzählige konzeptuelle (virtuelle) Dichtungsmaschinen, Kombinatoriken und narrative Konzepte entworfen worden sind, die einen aktiven Leser verlangen – die aber allesamt aufgrund produktionstechnologischer Trennungen und grundlegend verschiedener medialer Ausstattung von Autor und Leser kaum zu 'wirklicher' poetischer Aktivität der Leser führten – stellt Raymond Queneau aus dem Umfeld der Gruppe OULIPO (l'Ouvroir de LittÇrature Potentielle) 1961 endlich eine verbesserte Buch-Hardware zum Gebrauch als Dichtungsmaschine vor: zehn Sonette sind auf zehn verstärkten Seiten so gedruckt, daß der Leser zeilenweise blättern – und somit alle Zeilen aller Seiten miteinander kombinieren – kann: eine kombinatorische Poesie-Maschine[29] für alle.

Expanded Books

Daß elektronisches Lesen keinesfalls heißen muß, auf die gewohnten Funktionalitäten des Buch-Interfaces zu verzichten, zeigen die sogenannten Expanded Books [30]. Sie stellen die bisher gelungenste Umsetzung von Buch- Benutzer-Metaphern auf den Computer dar.
Das Anwendungsgebiet dieser elektronischen Texte klingt fast nach klassischen hermeneutischen Operationen: es sollen optimierte Operationen für aktives Lesen und Rezensieren am Bildschirm (wie Suchen, Markieren, Anmerken, Exportieren … ) unterstützt werden.
Die Grenzen der Expanded Books liegen darin, daß sie eben doch nur 'erweiterte Bücher' [31] sind und durch die klare Trennung von Autor/Leser-Funktionen die revolutionären Möglichkeiten des elektronischen Publizierens nicht voll ausnutzen.

Roman als Kartenspiel

Döblins Diktum – man könne die Erzeugnisse der Epik unbedenklich in Stücke zerschneiden, sie würden dennoch lebensfähig bleiben – setzt Marc Saporta 1962 in einen zum Kartenspiel umfunktionierten Roman um. Offene Kompositionsformen der seriellen Musik, Mallarmés Aleatorik, die cut-up-Methode William Burroughs gehen in die Funktionalität dieser literarischen 'Karten-Misch-Maschine' genauso ein wie narrative Spielformen des Noveau Roman.
In Anlehnung an künstlerische Buch-Objekte wird bei diesem Experiment nicht nur die Typographie aufgelöst, sondern der materielle Körper des Buches selbst wird auseinandergerissen:
Öffnet der Leser die Buch-Box, so findet er darin einen Stapel von einhundertundfünfzig unpaginierten Karten nebst einer Gebrauchsanweisung[32].

Schwamm

Schwamm [33] ist eine auf dem Computermonitor erscheinende weitverzweigte Geschichte. Texte und Bilder werden in verschiedenen Genres (Erzählung, Skizze, Spiel, Rätsel, Dokument etc.) kombiniert – erst die aktive Mitarbeit des Lesers bahnt einen Weg durch dieses Erzählgeflecht, öffnet die vom Autor als Möglichkeitsfelder angelegten sprachspielerischen Gebilde, deren Realisation und Ausgestaltung von den Aktivitäten und Entscheidungen der Benutzer abhängt.
Der Leser kann entweder direkt in bestimmte 'Kapitel' gehen oder über einen Index zu bestimmten Stellen der Geschichte. Das Auswählen bestimmter Verzweigungen über (versteckte) Bild- oder Textelemente verändert 'wirklich' den Lauf der geschichteten Geschichte(n).

Paperassen

Man braucht sich bloß die Manuskripte von Proust oder Joyce anzuschauen, um den immensen Widerspruch zwischen den raumgreifenden Ausschweifungen multidimensionaler Schreibbewegungen und der eingegrenzten Fläche der Buchseite studieren zu können. Gerade die Proustsche Methode der 'memoire involuntaire' arbeitet sich von außen nach innen in letztlich unendlichen Verschachtelungen von Episoden, die immer weitere Erinnerungsprozesse freisetzen: selbst auf den Korrekturbögen nahm Proust immer weitere Einfügungen vor, so daß letztlich nur ein praktischer Trick der Haushälterin die Fortbewegung der verzweigten Textmengen sichern konnte: bis zu 1,50 m lange ausfaltbare Paperassen werden leporelloartig am Rand der Seiten angenäht. Proust hat – die Effekte und Wirkungen seines Schreib-Experiments ständig reflektierend – auch schon eine aktive Rolle des Lesers entworfen, der als Benutzer seiner 'literarischen Maschine' in den literarischen Kommunikationsprozeß mit einbezogen ist. Er fordert den Leser immer wieder auf, den Text als Brille, Teleskop, Mikroskop … zu benutzen – Anschlüsse [34], Verbindungen zu eigenen Erinnerungs- und Wahrnehmungsprozessen herzustellen. [35]

Julio Cortazar: Himmel+Hölle

Eine andere extreme Grenzerfahrung narrativer Struktur-Spiele bietet Julio Cortazars Roman Rayuela, der dem Leser in einem Wegweiser ausdrücklich verschiedene Lese-Wege durch den Text anbietet und ihn wirklich zum Hin- und Herblättern verführt – programmierte Endlosschleifen in den Verweisen drängen den Leser zu eigenen Entscheidungen.

Lesemaschinen

An anderer Stelle hat Cort zar eine Maschine zum Lesen entworfen, die RAYUEL-O-MATIC[36] – ein Liegemöbel mit einer Art Musiktruhe, in der Bar und Lese-Mechanismus nebst Programm-Knöpfen untergebracht sind. Raymond Roussel wollte die Verschachtelung seiner Texte, die durch endlose Aufzählreihungen, Abschweifungen, Fußnoten und Parenthesen mit 9-fachem Verschachtelungsgrad schwer zugänglich sind, durch mehrfarbigen Druck übersichlicher gestalten – doch seine Verleger lehnten solch aufwendige Verfahren im Jahre 1932 ab.
Bei einer surrealistischen Ausstellung wird dann 1937 eine "Roussel-Lesemaschine" gezeigt, für die der Text auf Pappkarton nach der Art eines Rundregisters montiert wird: der obere Rand ist je nach Verschachtelungsgrad mit einer anderen Farbe versehen. Die Karten sind um die Achse einer Trommel angebracht, die der Leser mittels einer Kurbel mit der rechten Hand dreht, während er mit der linken die gewünschte Textkarte an einer nach oben stehenden farbigen Marke festhält, so daß die zusammenhängenden Textkarten (einer bestimmten Verschachtelungsebene) hintereinander aufgeblättert werden können.

Tele-Phon-Buch

Es klingelt. Hallo. Wer spricht?
Radikal in der Anwendung medialer Diskurstechniken ist Avital Ronells Theorie-Experiment "The Telephone Book". In Layout und Organisationsweise strukturell an die Funktionsfähigkeit eines Telefonbuches angelehnt, führt es die 'Dekonstruktion des Phonozentrismus' konsequent auch in den eigenen Sprachgebrauch ein:
Das Medium Telefon arbeitet als aktive/lebende Metapher im Hintergrund des zur Telefonzentrale umgerüsteten Buches. Die verschiedenen Diskurse ('Technology', 'Schizophrenia', 'Electric Speech') werden im Sinne telekommunikativer Verbindungen zusammengeschaltet: weiße und gelbe Seiten, long-distance calls, return calls (z.B. Derrida mit Freud), local calls. Die Diskurspartner heben ab, legen auf, lassen das Telefon klingeln. Ein Spiel mit Typographie und Layout führt den Leser vom linearen Leseweg ab und verführt ihn dazu, Querverbindungen herstellen, von einem Strang zu einem anderen zu springen, sich zu verirren.
Das Manual [37] für Benutzer warnt mich ausdrücklich vor dem Gebrauch dieses Buches.

MEMEX

"This has not been a scientist's war …" hebt der visionäre Prätext der Hypertext-Idee an … (Bush 1945:101) und versucht im Folgenden die Wissenschaft von der unmittelbaren Kriegsproduktion auf (zivile) Wissensproduktion umzuprogrammieren:
Vannevar Bush, der wissenschaftliche Berater Präsident Roosevelts und Koordinator amerikanischer Wissenschaftler, veröffentlichte 1945 in einem Artikel "As We May Think" (Bush 1945:101-108) seine Visionen über den Einsatz von Computern für ein wissenschaftliches Informationssystem Memex. Im Gegensatz zu einer hierarchischen und abstrakten Indexierung bisheriger (relationaler) Datenbanken, die nur numerische oder alphabetische Sortierungen erlaubten, sollte Memex ein Online– Text- und Retrievalsystem mit assoziativem Zugriff auf Texte, Fotos, Zeichnungen und persönliche Notizen sein.
Die Suchwege, sogenannte "Knowledge Trails", der unterschiedlichen Benutzer knüpfen im unstrukturierten Datenbestand Netze, die Wissenspfade der Benutzer festhalten, indem sie ausgesuchte Textstellen mit Grafiken oder anderen Textstellen assoziativ verketten. Randbemerkungen, Fortschreibungen, Kommentare sind jederzeit möglich, ebenso die Weitergabe von Wissens- Pfaden an andere Benutzer.

Europäisches Tagebuch

Ein anderes Netzwerk-Projekt setzt an der Schnittstelle Macht/Ohnmacht, Zentrum/Peripherie, privat/öffentlich an und nutzt die neue Qualität des offenen hybriden Informationsraumes aus, um eine alte literarische Form im Kontext neuer Öffentlichkeiten radikal anders zu benutzen.
Die persönliche Form des Tagebuchs wird direkt ins Netz geschrieben. Ausgehend vom 'Zagreb Diary', in dem der Holländer Wam Kat seit Frühjahr 1992 seine persönlichen Eindrücke vom Kriegsgeschehenn im ehemaligen Jugoslawien – 'gewissermaßen wie offene Briefe an meine Freunde oder an Menschen, die ich für Freunde halte'- über Computernetze öffentlich macht, werden persönliche Eintragungen, subjektive Geschichten und Erlebnisse quer durch Europa in Netzen gesammelt und zusammengetragen – und somit der offiziellen Medien- und Nachrichtenstruktur, den immer gleichlautenden Agenturmeldungen entgegengesetzt.
connect. [38] Die Lektüre digitaler Text-Netzwerke[39] fordert und ermöglicht eine aktive Beteiligung des Lesers, dessen gezieltes Umherschweifen durch die Text-Landschaften ihn zum Mittäter [40] macht.
Während in den frühen Manuskripten sich die Autoren für ihre (physische) Abwesenheit entschuldigten und als einzige Rezeption der Texte ein lautes Vorlesen infrage kam, beginnen viele (nicht digitale) Texte über neue Schreibtechnologien oft mit der voranstehende Klage, daß der zu lesende Text (leider) nur in gedruckter Form vorliege, was dem Inhalt durchaus nicht adäquat sei und außerdem eine Zumutung für den Leser darstelle, der sich den Text doch lieber gleich als Hypertext[41] besorgen solle.
Dieses Argument ist ebenso rhetorische Übertreibung und ein Stück weit ideologische Verbrämung wie die schon eingangs erwähnte Rede vom Ende der Gutenberg-Galaxis[42].
Es überschätzt die noch wenig entwickelten Diskursformen digitaler Textnetzwerke [43] (Hypertexte, Hypermedia und den ganzen Bereich der 'online-Literatur') und unterschätzt andererseits auch die gestalterischen Möglichkeiten und rhetorischen Konzepte, die sich im Laufe der Geschichte des Schreibens als Kulturtechniken herausgebildet haben. Neben literarischen Experimenten quer durch die Literaturgeschichte werden – gerade in Übergangszeiten des Medienwechsels[44] Innovationen und Diskursexperimente hervorgebracht, die sich geradezu als Antizipation des virtuellen Schreibens in digitalen Netzwerken lesen lassen. Eine interdisziplinäre Sichtweise könnte eine gleichermaßen technik- und kulturkritische – dekonstruktive Praxis [45] im Umgang mit den neuen Medien provozieren.

Die Imaginäre Bibliothek

Nach verschiedenen Projekten auf Medienfestivals, in denen PooL-Processing [46] versucht hatte, vor Ort einen ironischen, ästhetischen, offenen Umgang mit Informationen und Informationsmedien in Gang zu setzen, ist die Imaginäre Bibliothek eine Fortsetzung des reinen "Informations-Processing" mit anderen Mitteln:
Ein Text/Bild-Archiv wird inszeniert – hypertextuelle Navigationsprozesse werden mit poetischen Bruchstücken der Buchkultur aufgeladen.
Der Leser als Reisender/Navigator/User wird zum neuen Helden, der gegen die stupide Vorherrschaft designter Bild-Schirm-Medien einen aussichtslosen einsamen Kampf führt.
Die Programmierung [47] der Imaginären Bibliothek setzt die Metapher einer labyrinthischen Bibliothek in Szene und folgt damit dem postmodernen 'Sprachspiel' von der aktiven Rolle des Lesers, die dann noch leichtfertig als 'Befreiungsideologie' des Informationsmediums Computer ausgegeben wird.
Es wäre wirklich wunderbar, könnte man im Weben einer Hypertext-Struktur der Entstehung von Gedanken beiwohnen – und das auch noch als gemeinschaftliches – kooperatives – Bild-Schirm- Denken.
Dabei ist die Bibliothek wahrscheinlich hermetischer als all unsere Beschreibungen und Beschwörungen vom offenen (Hyper-) Text es wahrhaben wollen – und vielleicht ist es gerade diese (relative) Abgeschlossenheit (bei unendlichen Kombinationsmöglichkeiten), die "funktioniert" und dem Leser wirklich die Illusion vermittelt, einen produktiven Akt auszuführen!
Das Struktur-Zitat der unendlich fragmentarisierten Bibliothek scheint gerade den wunden Punkt der Leser (und Schreiber) im Zeitalter der technischen (Re-) Produzierbarkeit von Texten zu treffen: alle sind jetzt angeschlossen und schreiben und lesen gleichzeitig an einer über die ganze Welt verteilten Textur [48] . Da seltsamerweise keines dieser hier erscheinenden Worte markiert ist, kann ich kein Wort anklicken. Ich komme zunächst nicht weiter, kann von diesem Text aus nirgendwohin [49] gelangen.

Elektronische Texte/Netzwerk- Adressen

"Beyond Cyberpunk. A do-It-Yourself Guide to the Future" (1992), (Mac, 5 Disketten zu beziehen über Eastgate oder von den Autoren: The Computer Lab, Rt. 4 Box 54C, Louisa, VA 23093, USA für $ 35,-)
Bukowski,Charles, (1993) "Kaputt in Hollywood, Expanded Book, (Maro-Verlag)
Bolter, Jay David (1991), Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing, Mac, Storyspace-Dokument, Eastgate
DeskTop Bookshop (1994), engl. ASCII-Texte von tausenden Werken der Weltliteratur (aus online- Archiven), (z.b. über DIRECTMEDIA: 0130- 857909)
"Doors of Perception 1" vom 30-31. Oktober 1994 in Amsterdam, CD-ROM-Dokumentation in Mediamatic VOL 8#1
"Doors of Perception 2. @HOME" vom 4-6 November 1994 in Amsterdam. Dokumentation der Vorträge: http://mmwww.xs4all.nl/Doors/Doors.html; auf CD-ROM in der Mediamatic I/95
Dufke, Klaus (1991), Proteus. Eine interaktive Hypertext-Installation auf dem Apple Macintosh zur Rekonstruktion eines Romans und einer Stadt, (Hypercard-Programm, lauffähig auf Macintosh, 8 MB – Informatinen über Klaus Dufke Fax 040- 2369297)
Eastgate Sytems, 134 Main Street, Watertown, MA 02172, USA, Fax: 001-617-924-9051; eastgate@world.std.com
Europäisches Tagebuch: Netz-Werk- Schreibprojekt. in: Brett T-Netz/ Tagebuch in vielen Mailbox-Netzen (z.B. //BIONIC (Bielefeld): 0521/68000
Expanded Books, ca. 100 Bücher für Mac- Powerbook und Windows-Notebooks: Voyager
Flusser, VilÇm (1987), Die Schrift, Göttingen (Text und Diskettenedition (DOS): Immatrix Publications)
Grassmuck, Volker R. (1995), Die Turing Galaxis. Das Universal-Medium auf dem Weg zur Weltsimulation: http://www.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/TGM/tgm.html. Sammlung von Links zu MUDS: http://ww.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/MUD/mud.html
Gutenberg-Projekt: http://jg.cso.uiuc.edu/welcome.html
HotWIRED: http://www.hotwired.com
HyperKult CD-ROM (1995): Universität Lüneburg, Forschungszentrum Karlsruhe, GI Fachgruppe "Computer als Medium": Hypertext- Anwendungen, Experimente, Kunst- und Museums- Projekte (Informationen: Martin Schreiber: 04131- 714472)
Hypertext-Hotel (kooperatives Schreibprojekt an der Brown-University initiiert von Robert Coover): http://duke.cs.brown.edu:8888/
Imaginäre Bibliothek (1990-1995), (Literarische Experimente, elektronische Essays, Dokumentationen von PooL-Processing und kommentierte Navigationshilfen zu Literatur-, Kunst- und Theorie-Projekten im WWW): http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html
Internationale Stadt (Berlin): http://www.is.in-berlin.de
Klute, Rainer (1995), Das WWW-Kompendium. Multimedialer Hypertext im Internet: http://www.nads.de/~klute/WWW-Kompendium/Inhalt.html
Mediamatic Magazine Art & Media, Tel/Fax: +31- (0)20-638 4534
Mediamatic-online: http://mmol.mediamatic.nl
MediaMoo (kooperativer Medienforschungs-Raum am MIT): purple-crayon.media.mit.edu 8888
Nonlocated online > Digitale territories, incorporations and the matrix (Redaktion Knowbotic Research: kr+cf@khm.uni-koeln.de): < A href=" http://www.uni-koeln.de/kr+cf/"> http://www.uni-koeln.de/kr+cf/
online-books (Liste von über 600): http://www.cs.cmu.edu/Web/books.html
Phoenix Project, Internet-Projekt zur Rekonstruktion der Bibliothek von Sarajewo im Netz (Informationen über Ingo Günther: i-gun@Maestro.com)
"Poetry in Motion" (1992) von Ron Man: CD-ROM mit 24 Poetry-Performances, Voyager
"Schwamm"(1988-) von Detlev Fischer (Hypercard- Stack): Detlev Fisher, 15 Central Buildings, Warcrick RA, Coventry, CV36AJ, GB und auf HyperKult-CD-ROM
Storyspace: (1990-) Hypertext-Writing-Environment für Mac (incl. HTML-Export) und Windows: Eastgate
"The Society of Mind"(1994) von Marvin Minsky: CD- ROM, Voyager
The Sprawl-ChibaMOO (Cyber-Fiction-Welt mit Chiba- Universität). http://sensemedia.net/sprawl/
Voyager-Company (Expanded Books, CD-ROMS): Fax. 001-212-431-5799; Voyager@applelink.aple.com
Waxweb (interkommunikativer Film / hypernarrativ / kooperativ): http://bug.village.virginia.edu; MOO: bug.village.virginia.edu 7777
wired (Netzwerk-Magazine): Fax: 001-415-222 6204; subscriptions@wired.com

Anmerkungen

1. Das "Phoenix Project" ist ein Versuch, im Internet eine digitale Bibliothek einzurichten: An verschiedenen dezentralisierten Orten in der ganzen Welt sollen Archiv-Center eingerichtet werden, in denen bosnische und kroatische Menschen die Möglichkeit haben, ihre Lieblingbücher einzuscannen. In Kooperation mit verschiedenen Bibliotheken (u.a. der New York Public Library), die slawische Abteilungen pflegen, und der Brown University (an der viele Pilotprojekte zum elektronischen Publizieren, zu literarischen Hypertexten etc. laufen) werden die Texte nach und nach im Netz allgemein zur Verfügung gestellt, während gleichzeitig – zunächst in Kellerräumen der ausgebrannten Bibliothek in Sarajewo – für die Bevölkerung von Sarajewo Terminalräume eingerichtet werden, über die sie Zugriff zu der digitalen Bibliothek haben. Darüber hinaus funktioniert diese 'digitale Bibliothek' auch als ein Kommunikationssystem, ähnlich den Wandzeitungen im revolutionären China … (Informationen über Ingo Günther: i-gun@Maestro.com – siehe auch: Ingo Günther (1995), the phoenix project, in: Zeitschrift MedienKunst e.V. (Hg.), Nonlocated online > Digitale territories, incorporations and the matrix, Innsbruck (ISSN 1019-4193), map XIIa – Eine Sondernummer der Zeitschrift Medien.Kunst.Passagen, die verschiedene Netzwerkprojekte -als ausklappbare Maps gebunden – vorstellt. Ein Versuch, den Texten auch im Druckmedium eine karthographische Funktion zukommen zu lassen. Eine geplante 'extended Version' ist zu suchen unter: http://www.uni-koeln.de/kr+cf/)

2. Das bewegte Icon in dem Netzwerk- Browser Mosaic (siehe Anmerkung 14) ist ein Indikator dafür, daß die Online-Verbindung aufgebaut ist und Daten übertragen werden. Der Benutzer hat in diesen Momenten – die je nach Leitungskapazität und übertragener Datenmenge einige Minuten bis zu einigen Stunden dauern können – endlich wieder Zeit, etwas anderes zu tun (zu Lesen, oder im Hintergrund Texte zu editieren etc.). (Doch diese kleine Animation ist fast schon wieder Nostalgie – so zeigt etwa Netscape 1.1 vollends einen Blick von außen auf den Planeten Erde: die Informationen stürzen als Sternschnuppen auf die dämmrige Welt. Weh dem,der Metaphern sieht!)
Ich will den Computer wieder ausschalten, da findet sich in der Zwischenablage noch folgende Kopie aus einer Netzwerksession in der Mediamatic- online (eine Erklärung dieser Steuerzeichen gibt die Anmerkung 13) Springen Sie bitte zum Text zurück!

3. Agentur Bilwet (1995), Der Datendandy. Über Medien, New Age und Technokultur, Mannheim, S.208-211

4. Eine mögliche Auszeichnungsmethode für Hyperlinks in HTML (siehe Anmerkung 14)- die rot markierten Absprungmarkierungen sind schon einmal benutzt worden.

5. siehe Anmerkung 48

6. siehe Anmerkung 7, 39 und 49

7. Die aufkommenden technischen Medien beflügelten die Literatur seit der Jahrhunderwende und führten zu einer Reflektion medialer Auflösungserscheinungen in der Literatur (Futurismus, Noveau Roman, James Joyce). "Das Wort Aufschreibesystem […] kann auch das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichnen, die einer gegebenen Kultur die Entnahme, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben. […] Nun sind zwar alle Bibliotheken Aufschreibesysteme, aber nicht alle Aufschreibesysteme Bücher. […] Archäologien der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und-berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen." Kittler, Friedrich (1987), Aufschreibesysteme 1800/1900, München, S.429

8. Die poetischen Operationen mit denen Ezra Pound, Stephane Mallarmé, James Joyce u.a. die Verwendung der Sprache revolutionieren, sind genau dieselben, die die Pioniere einer vernetzten Ideenproduktion in den sechziger Jahren auf der neuen Wunschmaschine Computer implementieren: assoziativer Zugriff auf Daten unterschiedlichster Art, offene Texte, die an jeder Stelle verändert, ergänzt und mit anderen Textstellen (oder Bildern) verknüpft werden können; jedes Wort wird zu einem Knoten von Bedeutungen, zu einem möglichen Absprungort für neue Konstellationen, Anspielungen und Verweise …
Schreiben (als ecriture im poetischen Sinne, als Tätigkeit, als Machen, Hervorbringung) geschieht (schon) immer on-line: eingeschaltet in die Projektions-Apparatur (eines Aufschreibe-Systems), schaltet der Schreibprozeß ständig hin und her zwischen Senden/Empfangen, Erinnern/Vergessen, Fortführung/ Bruch …

9. Michael Heim (Heim, Michael (1987), Electric Language: A Philosophical Study of Word processing, New Haven) beschreibt die komplexen Stadien der 'konzeptuellen' und 'psychischen' Netzwerke des word-processing als Manipulation, Formalisierung und Verknüpfung. Ein alphabetisches Manual dieses "on-screen- thinking" findet sich in Idensen, Heiko/Krohn, Matthias (1994), "Bild-Schirm-Denken. Manual für hypermediale Diskurstechniken", in Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Christoph Tholen (Hg.), Computer als Medium, München, S. 245- 266

10. Schreiben im Netzwerk hat nicht im klassischen Sinne mit Literatur zu tun – als System Autor-Werk-Bedeutung-Markt – sondern damit, Neuland im telematischen Raum zu vermessen, Textlandschaften anzulegen, Schreiben und Lesen als einen nomadischen Akt des Umherschweifens durch Text-Netzwerke zu begreifen. Die zusätzlichen Dimensionen des hypertextuellen Zusammenschnitts verschiedener Textpartikel, die durch permanentes Up- und Downloading zwischen verschiedenen Netzwerk-Knoten zirkulieren, setzen die geistige Arbeit der Textproduktion als soziales Netzwerk frei.

11. Zonen bezeichen nicht- hierarchisierte Vernetzungen im Datenraum, mit Ausstrahlungen in soziale Räume. Hakim Bey sprocht von der 'temporären autonomen Zone': "Im allgemeinen werden wir den Ausdruck Spinnengewebe dann gebrauchen, wenn wir uns auf die alternierende horizontale offene Struktur des Infoaustausches, das nicht-hierarchische Netzwerk beziehen und uns den Begriff Gegen-Netz für die klandestine illegale aufrührerische Nutzung des Spinnengewebes, einschließlich Datenpiraterie und anderer Formen, im Netz selber zu fischen, vorbehalten." Bey, Hakim (1994), T.A.Z.. Die Temporäre Autonome Zone, Berlin , übersetzt aus dem Amerikanischen von Jürgen Schneider, Originaltitel (1991), T.A.Z. The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism, New York, S.121)

12. Intertextualität war in den politisierten Literaturdebatten der siebziger Jahre der entscheidende 'Kampf'-Begriff zur Aufhebung bürgerlicher Autoren-Funktionen zugunsten literarischer Netzwerk-Modelle. Diese Impulse führten – neben einer explosionsartigen Ausbreitung intertextueller Schreibweisen – auch zum Paradigmenwechsel in der Literaturtheorie. Ein ausuferndes 'Lexikon' intertextueller poetischer Praktiken liefert Genette, Gerard (1993), Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main, übersetzt aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Originaltitel (1982), Palimpsestes. La litterature au second degre, Paris.

13. Deshalb ist die oft vorgenommene Analogisierung zwischen der klassichen Fußnote und dem link in elektronischen Texten auch nur bedingt tauglich. Der narrativen Funktion von links kommt man aber doch auf die Spur, wenn man extreme Gebrauchsweisen von Fußnoten in literarischen oder theoretischen Texten verfolgt: Fußnoten weisen über die (auch physische) Abgeschlossenheit nicht digitaler Texte hinaus. Sie ermöglichen ein Schreiben über den Rand des jeweiligen Diskurses. Als Absprungstellen für den Leser fordern sie Interpretation, Kritik, eigene Suchbewegungen heraus und bewirken einen Perspektivewechsel, der das diskursive und auktoriale Zentrum des Textes aufsprengt und für Anschlußmöglichkeiten an andere Texte und Diskurse sorgt. In dem Essay "Living On" (Derrida, Jacques (1979), "Living On", in: Harold Bloom (Hg.). Deconstruction and criticism, New York, S.75-176) untersucht Derrida Grenzlinien in Mairice Blanchots Texten und kommentiert den Prozeß seiner Gedanken gleichzeitig, indem er eine einzige Fußnote einsetzt, die unterhalb des gesamten Textes parallel weiterläuft. Als narrative Stilfigur findet sich die Fußnote extensiv eingesetzt im 10. Kapitel von Finnegans Wake (Joyce, James (1947), Finnegans Wake, New York), in dem der Haupttext in der Mitte (Textmaterialien einer Schulstunde) von Marginalien an den seitlichen Rändern (Bezugsstellen und Anmerkungen zweier Brüder zum studierten Text) und Fußnoten (die Beziehungen zwischen den Brüdern und der Schwester herstellen) umrahmt wird. Der Leser wird hier in einen Dialog zwischen verschiedenen Texten und Lesarten verwickelt, der Akt des Lesens, das Navigieren im Text wird konstitutiver Bestandteil des Textkörpers. Weitere Beispiele finden sich in dem Essay: (1983) "At the Margin of Discourse: Footnotes in the Fictional Text". Leider ist in keinen mir bekannten Textverarbeitungs-Programm die Möglichkeit gegeben, in Fußnoten wiederum Fußnoten einzufügen – und somit eine Mehrfachverschachtelung zu erreichen, wie sie etwa in Raymond Roussels Texten gegeben ist.

14. Gemeint sind hier vernetzte elektronische Texte. Die zum Editieren nötigen Hypertext-Programme wurden nach einer Vorlaufphase in den sechziger Jahren dann in den achtziger Jahren auch auf PCs verfügbar – eine allgemeine Verbreitung wurde aber durch unterschiedliche Dokumentstrukturen verhindert. Erst in den neunziger Jahren bildete sich ein universeller Hypertext-Standard heraus, der sich wie ein Virus verbreitet: die Hypertext Markup Language (HTML) – das 'natürliche' Austauschformat elektronischer Texte im Word Wide Web (WWW). Die offene Struktur, die einfache Bedienung der grafischen Oberfläche und die Tatsache, daß für alle Rechnerplattformen Freeware-Browser und Editoren verfügbar sind, führten dazu, daß die althergebrachten Internet-Dienste (wie FTP, Newsgroups) inzwischen auch größtenteils in das WWW-Konzept integriert wurden. Das WWW ist quasi zum Standard des online-Publishing geworden und trägt mit zum derzeitigen Boom des Internet bei. Seit der ersten Version des grafischen Browsers Mosaic (Januar 1993) wuchs die Zahl der Web-Sites von fünfzig auf über eintausendfünfhundert (Mitte 1994) – mittlerweile sind schätzungsweise vierzigtausend Web-Sites online. Täglich werden die entsprechenden Browser von mehreren tausend Usern von den entsprechenden ftp- sites heruntergeladen (über zehn Millionen allein für Mosaic). Der Netzwerk-Leser findet im WWW gestaltete Textseiten vor, von denen aus er durch einfaches Anklicken Navigieren kann. Durch das offene Austauschformat ist jede weitere Integration anderer Medien (Bild, Ton, MPEG- komprimiertes Video …) möglich, wenn auch durch die langen Übertragungszeiten bisher nur begrenzt praktikabel.
Eine genaue Syntaxbeschreibung von HTML findet sich in Klute, Rainer (1995), Das WWW-Kompendium. Multimedialer Hypertext im Internet, Bonn, das (schon während der Entstehung – d.h. ca. sechs Monate vor dem voraussichtlichen Erscheinen des Buches) verfügbar ist unter: http://www.nads.de/~klute/WWW- Kompendium/Inhalt.html. Hier bietet der Autor den Lesern seines online-Manuskriptes auch eine Mitarbeit bei der Entstehung des Buches an: Verbesserungsvorschläge, Ergänzungen, sowie Bewertungen zu Struktur und Inhalt können über ein Eingabefeld auf den entsprechenden Seiten (automatisch per email) direkt an den Autor geschickt werden. Extensive Benutzung von Annotationsmöglichkeiten finden sich in David Blairs "WaxWeb" – siehe Anmerkung 21

15. Das Mitschreiben und Abspeichern der Lesewege durch das Netz ist eine wichtige Aktivität der Informations-Filterung und Speicherung innerhalb des rhizomatischen Labyrinths im WWW. Das Navigieren im Netz ist zwar eine oberflächliche Art des Lesens, des Überfliegens von Informations-Landschaften, die aber ihren eigenen Reiz hat. Daß diese Suchbewegungen (analog zum Weiterverfolgen von Referenzen und Spuren in gedruckten Texten) durchaus eine kommunikavite (oder sogar ästhetische) Funktion erfüllen, zeigt der Erfahrungsbericht eines Journalisten (Wolf, Gary (1994), "The (Second Phase of the) Revolution has Begun", in WIRED, Oktober 1994. S.116-121 und S.150-154), der in einem Artikel über das World Wide Web beschreibt, wie er bei einer (rein technischen) Informationssuche im Netz durch eine falsche Adressenangabe sein eigentliches Ziel verfehlt und dann beim assoziativen Umherschweifen im Umfeld der gesuchten WWW-Site zu einem Hypermedia-Experiment mit Audio-Unterstützung verführt wird, von dort zu einen "Poetry Archive" usw. … . (Wolf 1984:121) Im Unterschied zu den auf den Horizont des einzelnen Lesers beschränkten Leseerfahrungen der Buchkultur ist der Austausch der Navigations-Erfahrungen im Netz ein wichtiger Bestandteil der Netzwerk-Kultur. Die Veröffentlichung von hotlists ist eine Öffnung des eigenen Lese-Raumes, eine konkrete Weitergabe von Quellen, Referenzen, interessanten Stellen im Netz, die gleichzeitig das Profil und die Bezugspunkte der jeweiligen WWW- sites deutlich machen. Ein hervorragendes Beispiel ist Meyers Hotlist: "http://www.hrz.uni- kassel.de/fb3/psych/sim/sub/hameyer/boma.html"

16. Ted Nelson prägte in seinen visionären Entwürfen hypertextueller Kommunikationslandschaften den utopischen Begriff von elektronischer Literatur als "Dokuverse" :"Literature is an ongoing system of interconnecting documents."(Nelson, Theodor, Holm (1981), Literary Machines, Swarthmore :2/9 ff.) und Bolz (Bolz, Norbert (1993), Am Ende der Gutenberg-Galaxis, München, S.216 ff.): "Der Abschied von den diskreten, privaten Dokumenten der Gutenberg-Galaxis ist eben auch ein Abschied von den Ordnungsmustern Hierarchie, Kategorie und Sequenz. […] Es gibt gar keine Einzelgegenstände des Wissens […] es sind nur Knotenpunkte unzähliger Querverbindungen, Gatter und Netze."

17. Viele Facetten des (virtuellen) Homes beleuchtete die Konferenz "Doors of Perception 2. @HOME" vom 4-6 November 1994 in Amsterdam. Eine Dokumentation der Vorträge findet sich im WWW unter: http://mmwww.xs4all.nl/Doors/Doors.html oder in der Mediamatic 8 '2/3.

18. Der Ursprung dieser Verräumlichung von Daten findet sich in der antiken Rhetorik, die als Gedächtniskunst vielfache Verfahrensweisen und Methoden der Verortung von Wissensbausteinen entwickelte. Die immer wieder zitierte 'Home-Page' der Mnemotechnik schildert als Ursprungsmythos drastisch die katastrophische Zerstückelung von Körpern einer ganzen Tischgesellschaft: der gewerbliche Dichter Simonides von Keos (556-468 v.u.Z.) rekonstruiert – als einziger Überlebender – für die Nachkommen die Namen der zu Tode gekommenen über die Sitzordnung bei Tische. (siehe: Cicero, De Oratore II, 352-58, zit. n. Cicero (1976), De oratore (Über den Redner), Stuttgart, übersetzt von Harald Merklin, S. 433 ff)
Zur Art of Memory siehe Yates, Frances A. (1990), Gedächtnis und Erinnern: Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim, Originaltitel, (1966), The Art of Memory, London, zur Entwicklung der Desktop-Metapher Brand, Steward (1990), MEDIA LAB. Computer, Kommunikation und Neue Medien. Die Erfindung der Zukunft am MIT, Reinbek, aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Mutz, Originaltitel (1987), The Media Lab, New York, S.170 ff), Hypertext und Gedächtnis- Metaphern Idensen, Heiko/Krohn, Matthias (1990b), "Vom Hypertext in der Kunst zur Kunst des Hypertext", in: Peter A. Gloor/Norbert A.Streitz, Hypertext und Hypermedia, Berlin, S. 296- 300), Gedächtniskunst als Cyberspace Bartels, Klaus (1991), Memory im Cyberspace, in: Europäisches Medienkunst Festival, Osnabrück, S. 216-220.

19. Eco 1977 beschreibt verschiedene 'Kunstwerke in Bewegung', die über das Ansprechen von Möglichkeitsfeldern einen aktiven Interpretations- und Rezeptionsprozes herausfordern (Partituren serieller Musik, informelle Malerei, Visuelle Poesie, Live- Fernsehsendungen, Querschnittstechniken bei Joyce): "Jedes Ereignis, jedes Wort steht in einer möglichen Beziehung zu allen anderen, und es hängt von der semantischen Entscheidung bei einem Wort ab, wie alle übrigen zu verstehen sind." (Eco, Umberto (1973), Das offene Kunstwerk, Frankfurt/Main, Originaltitel (1962), übersetzt aus dem Italienischen von Günter Memmert, Opera aperta, Mailand,S. 39) Die Kunstwerke werden als Mechanismen aufgefaßt, derer man sich bedienen kann.

20. Joyce, James (1914), Ulysses, Triest, Zürich, Paris, Übers. (1975), Frankfurt/Main. In einer aus Copyright-Gründen leider nie veröffentlichten Arbeit hat Klaus Dufke das dritte Kapitel des Ulysses wieder auf den Stadtplan von Dublin zurückprojiziert, so daß der Leser vom Plan aus in die entsprechenden Textstellen springen kann (als Text, teilweise animiert, und vorgelesen – in verschiedenen Versionen und Übersetzungen) sowie zu korrespondierenden Bildern – somit können verschiede Erzähl- und Assoziationsstränge verfolgt werden. (Programmiert mit Hypercard, lauffähig auf Macintosh, 8 MB – Informatinen über Klaus Duffke Fax 040-2369297)

21. In Perec, Georges (1982), Das Leben. Gebrauchsanweisung, Frankfurt/Main, übersetzt aus dem Französischen von Eugen HelmlÇ, Originaltitel (1978), Paris wird ein weitverzweigter Roman auf die Zimmer eines Mietshauses verteilt: 99 Kapitel (für alle Zimmer des Hauses inklusive Kellerräume, Treppenhaus, Eingangshalle, Hausmeisterloge), die nach Prinzipien von Schachbrettzügen durchquert werden. Aus den Strukturen des Text- Hauses werden immer wieder konstitutive Elemente für jedes Kapitel entwickelt, die die Konstellationen der Personen, das Mobiliar, biographische und geschichtliche Anspielungen, Zitate und literarische Bezüge miteinander vernetzen. Thematisch steht eine aberwitzige Geschichte um einen Puzzle-Künstler im Mittelpunkt der insgesamt wie ein Puzzle ausgelegten Geschichten. Robert Coovers "Hypertext- Hotel" (in dem verschiedene Hypertext-Experimente der Brown University zusammenlaufen) arbeitet mit derselben Benutzermetapher: http://duke.cs.brown.edu:8888/
Diese literarische Spielform könnte gleichzeitig ein Vorbild sein für die am wenigsten 'literarischen' Spielformen im Netz: die MUDs (Multi User Dungeons) – gemeinsame Orte/Architekturen mit verschiedenen Räumen/Zimmern, in denen mehrere Spieler gleichzeitig ineinander verwobene 'Dialoge' – in einer Art Rollenspiel – führen. Jeder Benutzer / 'Bewohner' dieser virtuellen Orte kann nicht nur in vorhandenen Räumen agieren, sondern auch neue Räume konstruieren, sich Objekte, Themen, Initiativen ausdenken, neue Handlungsstränge, Ebenen, Gesetzte und Regeln einführen und naürlich selbst auch in neue 'Rollen' schlüpfen. Neben spielerischen Verarbeitungen sozialer Rollenkonflikte und möglicherweise auch Entwürfen für neue soziale Architekturen (die verschiedenen 'virtuellen Städte': Amsterdam, Berlin (http://www.is.in- berlin.de) ist vor allem die Entwicklung von Computer-Supported Collaborative Work (CSCW) zukunftsträchtig: Wissens-Architekturen, Multimedia-Datenbanken, die kooperativ und kollektiv von mehr oder minder festgelegten oder offenen 'Gruppen' gemeinsam benutzt werden. So haben sich etwa innerhalb des Waxweb-Projekts von David Blair (ein 'interkommunikativer' Film, bei dem die Zeitachse zugunsten von Querverbindungen aufgelöst worden ist, bestehend aus dreitausend WWW-Seiten, ca. fünfundzwanzigtausend Hyperlinks, fünfundachzig Minuten komprimiertem Video, fünftausend Standbildern) verschiedene autonome Arbeitsgruppen etabliert, die unterhalb der vorgegebenen Strukturen eigene 'Räume'/Foren aufbauen (z.B. eine 'womens's collaborative hypertext fiction working group' oder Vorbereitungen zu elektronischen Magazinen und Konferenzen. (bug.village.virginia.edu 7777). Für Medienforscher ist am MIT der kooperative Konferenz- und Arbeitsraum MediaMOO verfügbar (purple-crayon.media.mit.edu 8888) Informationen zu Web-basierten MUDs finden sich unter " http://chiba.picosof.com/about". William Gibson Fans dürften mit dieser Mischung aus graphischen WWW-Seiten, auf die jetzt interaktive Eingriffe seitens der Nutzer möglich sind, gespannt sein. The Sprawl implementiert Cyberspace-Welten – inklusive dem Entwurf für eine neu Art der virtuellen Universität: http://sensemedia.net/sprawl/(siehe auch Grassmuck (1995: 54), der auch eine Sammlung von Links zur Verfügung stellt: http://ww.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/MUD/mud.html.

22. Bei dem gegenwärtigen Internet-Hype brauchen die lokalen Mailboxen vor Ort (Übersichten finden sich z.B. regelmäßig in der ct) keinesfalls in Vergessenheit zu geraten. Sie bieten einen Zugriff auf vielfältige Dienste (email, News) – teilweise finden sich hier auch aus dem Internet 'gefischte' Daten gut aufbereitet und gefiltert. Auch WWW-Zugriffe sind in vielen Fällen geplant. Wer noch keinen 'direkten Draht' zum Internet hat, braucht keineswegs zu verzweifeln: Web-Dokumente können auch über email empfangen werden (Informationen darüber erhält man, wenn man eine email zu "listserv@info.cern.ch "sendet, mit www als (einzigen) Text). Bei dieser indirekten Informationsaufnahmen aus dem WWW entfällt natürlich das reizvolle direkte Navigieren – aber für den Empfang bestimmter ausgewählter Dokumente ist es durchaus geeignet.

23. Die sozialen und gesellschaftlichen Vernetztungsprozesse, die etwa durch den Buchdruck in Gang kommen, werden in Eisenstein (1983) und Giesecke (1991) anschaulich und mit einer Fülle von Beispielen aufgezeigt. Daß in historischen Umbruchsitutionen des Medienwechsels – etwa von der oralen Kultur zur Druckkultur bzw. in der jetzigen Übergangsphase zu digitalen Medienwelten – sich die Befürchtungen, Ängste und Einwände gegenüber den – jeweils – neuen Medien ähneln zeigt Ong, Walter J.(1987), Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen, übersetzt aus dem Amerikanischen von Wolfgang Schömel, Originaltitel (1982), Orality and Literacy. The Technoligizing of the Word, London auf: Veräußerlichung, Entsinnlichung. Desubjektivierung bzw. Abwesenheit des Sprechers/Autors, unkontrollierte Kopierbarkeit ohne Authentizitätsgarantie sind etwa Vorwürfe, die zunächst gegen die Hand- Schrift, dann gegen den Buchdruck, jetzt gegen digitale Texte erhoben werden. Zur Versachlichung der Kontroverse um Heil und Segen neuer digitaler Publikationsformen trägt Barlows glänzende Beschreibung und Problematisierung digitaler Informations-Umwelten bei. (Barlow, John Perry (1994), Wein ohne Flaschen. Globale Computernetze, Ideen-Ökonomie und Urheberrecht, in: Lettre International, Heft 26 III/94, S.57-64) (Vgl. Anmerkung 40,41 und 43)

24. Ein Ausschnitt aus dem antiken Druck zum Wissensbaum findet sich in der Imaginären Bibliothek (siehe Anmerkung 49), eine Transkription des Schematas in d'Alembert, Jean Le Rond (1989), Einleitung zur 'Enzyklopädie', Frankfurt/Main, aus dem Französischen übersetzt von Annemarie Heins, Revision Günther Mensching, S. 28-29).

25. Das Pariser Parlament bezieht sich in seinem Verbot der Enzyklopädie 1759 explizit auf die subversive Funktion der Querverweise ("[…] das ganze in diesem Wörterbuch verstreute Gift findet sich in den Verweisen."). Mit Verweisen von einem Band zu einem (erst später erscheinenden) anderen wurde die Zensur geschickt umgangen, etwa im berühmt gewordenen Verweis von 'Menschenfresser' (Anthropophages) im ersten Band auf die Begriffe 'Kommunion' und 'Eucharistie' oder vom orthodox gehaltenen Artikel 'Jesus Christus ' auf den eher ketzerischen Eintrag unter 'Eklektizismus ' (s.a. d'Alembert/Diderot 1989:20 ff.)

26. Von den insgesamt fünfunddreißig Bänden sind allein zwölf Bände den Tafeln und Abbildungen gewidmet, zwei Registerbände verzeichnen Schlagworte, Wissensgebiete und Stichworte. Auch die Zeichnungen und Tafeln sind in das komplexe Verweissystem einbezogen, indem sie einerseits bestimmte Zusammenhänge und Mechanismen darstellen, Details am Rande erklären – und gleichzeitig Verweise auf übergreifende Artikel enthalten, die diese Einzelfunktionen wiederum in einen größeren Zusammenhang stellen. Die enzyklopädische Montage zeigt Querschnitte durch Maschinen und Arbeitsvorgänge, breitet die einzenen Objekte vor dem Leser so aus, daß dieser diese wieder zum eigenen Gebrauch zusammensetzen kann. Als großangelegtes erstes kapitalistisches Buchprojekt (die Geschichte dieses Projekts wird ausführlich und spannend erzählt in Darnton, Robert (1993), Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie. Oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?, Berlin, übersetzt aus dem Englischen und Französischen von Hort Günther, Originaltitel (1979), The Business of Enlightment. A Publishing History of the EncyclopÇdie 1775-1800, Cambridge) beinhaltet sie gleichzeitig Gebrauchsanweisungen zur Buch- Herstellung (von der Papierproduktion über das Setzen bis zum Druck): "In jedem dicken Buch steckt ein dünnes, das heraus will."(ebd.:9) Der Gebrauch der Enzyklopädie ist also der eines aktiven, operationellen "Nachschlagens" – zur fortlaufenden Lektüre nicht geeignet.

27. http://jg.cso.uiuc.edu/welcome.html. Bis jetzt sind hier über zweihundertundfünfzig Titel verfügbar – in einer anderen Liste ( http://www.cs.cmu.edu/Web/books.html), die auch digitale Texte aus anderen Projekten verzeichnet, sind über sechshundert Titel aufgeführt – neben den Klassikern etwa auch James Joyce, Ludwig Wittgenstein und viele Texte aus dem Bereich Computer/Netzwerke – teilweise mit Illustrationen – viele Texte liegen auch direkt im HTML- Hypertext-Format vor.
Auch CD-ROM 'Auskopplungen' dieses immensen online-Bücherbestandes (z.B. "Desktop BookShop") sind verfügbar.

28. Dabei stellt sich nicht nur das Problem, daß es sich hierbei ausnahmslos um englische Texte handelt, sondern die Zitierfähigkeit dieser aufgefundenen Textstellen leidet auch darunter, daß die gebräuchlichen Angaben (etwa die exakte Seitenzahl in dem entsprechenden Werk) aus dem elektronischen 'Scroll-Text' nicht mehr ermittelt werden können. Siehe Anmerkung 43

29. In der Gebrauchsanweisung heißt es: "Dieses kleine Werk […] das jedermann erlaubt, nach Belieben hunderttausend Milliarden Sonette zu bilden […], ist alles in allem so etwas wie eine Maschine zur Herstellung von Gedichten. […] Mit jedem Vers (zehn an der Zahl) kann man zehn verschiedene Verse in Übereinstimmung bringen; es gibt also hundert verschiedene Kombinationen der beiden Verse.; wenn man einen dritten hinzufügt, wird es tausend geben, und für die zehn vollständigen Sonette aus vierzehn Versen hat man also das oben genannte Ergebnis. […] Wie LautrÇamont so schön gesagt hat, die Poesie soll von allen gemacht werden, nicht von einem." (Queneau, Raymond (1984), Hundertausend Milliarden Gedichte, Frankfurt/Main, aus dem Französischen übertragen von Ludwig Harig, Originaltitel (1961), Paris, o.S. aus gegebenem Anlaß!)

30. Die Expanded Books sind speziell für Macintosh-Powerbooks entwickelt (640×400, S/W Grafiken, 4 MB) – ein portables Environment, das ein komfortables Lesen digitaler Texte in unterschiedlichen Umgebungen ermöglichen soll.
Der Bildschirm funktioniert als Buch:
-Markieren von Textpassagen per Schriftschnitt oder Anstreichung am Rand
-Markierungen über 'Eselsohren' (mit Kommentar) und vier 'Büroklammern'
-Anmerkungen in kleinerer Schrift im Randbereich
Darüber hinaus ist eine einfache Suchfunktion eingebaut, die sich auch zum Erstellen eigener Index-Verzeichnisse verwenden läßt:
-durch Anklicken eines Wortes wird eine komplexe Suchfunktion ausgelöst (Anzeige des gefundenen Wortes in Extra-Fenster, ggf. im Kontext, abspeicherbar)
-Übernahmen von Textteilen in ein Notizbuch für komplexere Anmerkungen, die (samt Zitat mit automatischer Stellenangabe) exportierbar sind.
Nachdem die kalifornische Voyager Company schon eine Unzahl dieser elektronischer Bücher (hauptsächlich 'klassische' Literatur und Bestseller) für den amerikanischen Markt publiziert hat, ist jetzt die Programmoberfläche, mit der diese elektronischen Bücher produziert worden sind, verfügbar: das Expanded Book Toolkit. Das Umsetzten von Fließtext in das Expanded Book-Format geschieht über eine einfache Import-Funktion. Die oben beschriebenen Standard-Funktionen sind dann sofort verfügbar. Editiert werden müssen dann nur noch die gewünschten Querverbindungen (Links), etwa von Inhaltsverzeichnissen auf die entsprechenden Seiten oder Verschlagwortungen nach Registerverzeichnissen. Da das Toolkit auf 'Hypercard' aufsetzt, sind auch leicht Anpassungen an spezielle Umgebungen möglich.
Voyager hat inzwischen auch einige multimediale CD- ROMs mit diesem Toolkit produziert, die zu den interessantesten Produktionen (im Bereich Literatur, Kunst, Wissensvermittlung) gehören: "Poetry in Motion" Lesungen/Performances und Interviews amerikanischer Dichter – u.a. Bukowski, Burroughs, Cage, Ginsberg – zu denen parallel die jeweiligen Textstellen auf dem Bildschirm erscheinen. Das Anklicken einer bestimmten Textstelle läßt die Lesung sofort zu eben dieser Stelle springen. Vgl auch Marvin Minskys "The Society of Mind": die vernetzte Struktur von dreihundertundacht Wissenspartikeln wird hier dem Leser zur assoziativen Verknüpfung dargeboten – unterstützt durch teils animierte Grafiken und digitale Videosequenzen.
Der Testlauf der bisher einzigen deutschen Veröffentlichung (Bukowskis "Kaputt in Hollywood" vom Maro-Verlag) wurde wegen mangelnder Resonanz leider eingestellt.

31. Sie stellen somit ein hervorragendes Distributions-Medium für linear aufbereitete elektronische Dokumente dar, mit umfangreichen tools für die Autoren, die allerdings für die 'elektronischen Leser' nicht mehr verfügbar sind – es können z.B. keine Querverweise mehr eingebaut werden, die Leseaktivitäten beschränken sich auf Such-Operationen.

32. "Der Leser wird gebeten, diese Seiten wie ein Kartenspiel zu mischen. Abheben darf er, falls er es wünscht, mit der linken Hand, wie bei einer Kartenschlägerin. Die Reihenfolge, in der die Blätter liegen, entscheidet über das Los des Mannes X. […] Von der Verkettung der Umstände hängt es ab, ob das Geschehen gut oder schlecht endet. Ein Leben setzt sich aus vielerlei Teilen zusammen. Aber die Zahl der möglichen Zusammensetzungen -compositions- ist unendlich."
(Grimm, Reinhold (1965), Marc Saporta oder der Roman als Kartenspiel, in : Sprache im technischen Zeitalter 14 / 1965, S. 1172-1184; hier S. 1173)

33. Schwamm ist mit dem Programm "Hypercard" in den Jahren 1988-91 (teilweise in Kooperation mit Freunden, Mitbewohnern, Bekannten) von Detlev Fischer als ein komplexes Text-Bild- Netzwerk angelegt worden. Der Autor versendet den jeweils neusten Stand des Projektes gegen Einsendung von 4 HD-Disketten und Rückporto: Detlev Fisher, 15 Central Buildings, Warcrick RA, Coventry, CV36AJ, GB)
"Hypercard" (für Macintosh und das Pendant "Toolbook" für Windows) ist der 'Klassiker' unter den Hypertext-Programmen mit folgenden Merkmalen:
Objektorientierte Oberfläche, auf der sich komfortabel und einfach Felder, Buttons, Grafiken etc. erstellen lassen; Karten- und Datei (Rollfenster)-Metapher für Textdarstellung; Umfangreiche Navigationswerkzeuge; eine Scriptsprache im Hintergrund sorgt für Erweiterbarkeit, gestaltbares Interface (bis auf Betriebssystem-Ebene) komplexe Vernetzungen; durch konsequent visuelles Interface-Design geeignet als Oberfläche zur Steuerung hypermedialer Anwendungen (Ton und Bewegtbild-Einbindungen über Quicktime / Video für Windows).
Neben Beispielanwendungen, die beiden Programmen beiliegen, sind für die verschiedensten Bereiche Public-Domain-Anwendungen verfügbar: Bibliographie- Datenbanken, Text-Generatoren ("Story Producer", "Fiction Writers Guidelines", "HyperDraft" …), Index-Generatoren, Zitatensammlungen … (12-49 $ bei HEIZER Software, 1941 Oak Park Blvd. Suite 30, P.O.Box 232019, Pleasant Hill, CA 94 523, USA)
Eine der interessantesten mit "Hypercard" erstellten Veröffentlichungen ist"Beyond Cyberpunk. A do-It-Yourself Guide to the Future" (lauffähig auf jedem Mac, 5 Disketten zu beziehen über Eastgate oder von den Autoren: The Computer Lab, Rt. 4 Box 54C, Louisa, VA 23093, USA für $ 35,-): Auf mehreren Text- und Bild-Fenstern können Manifeste, Zeitschriften, Romane, Theorien, Standbilder aus Filmen – mit kleinsten Sound- Beispielen untermalt – zur Computer- und Cyber- Kultur abgerufen werden. Durch eine Vielzahl von Verweisen entsteht in Anlehnung an die zitierten Texte, Comiks, Musiken und Filme ein sehr lebendiges Bild der 'Computer-Underground'-Kultur.

34. "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte schauen können."
(Proust, Marcel (1957),Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band I-XIII, Frankfurt/Main , übersetzt aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, Originaltitel (1920), A la recherche du temps perdu, Paris; hier: XIII: 329) siehe Anmerkung 12 und 13

35. Siehe Anmerkung 16

36. A.- Auf Knopfdruck beginnt die Maschine mit dem 73. Kapitel (es öffnet sich Schublade 73); wenn man diese schließt, öffnet sich Nr.1, und so fort. […]
D.- Knopf, der zur Lektüre des Ersten Buches bestimmt ist, das heißt fortlaufend vom 1. bis zum 56. Kapitel. Schließt man die Schublade Nr.1 öffnet sich die Schublade Nr. 2, und so fort.
E.- Knopf, um die Maschine abzuschalten, sobald man den Endzyklus erreicht hat: 58-131-58-131-58 usw.
F.- Bei dem Modell mit Bett öffnet dieser Knopf den unteren Teil und das Bett steht bereit. […]
In einer zusätzlichen Anleitung wird Knopf G erwähnt, den der Leser im äußersten Fall drücken soll, und der dazu dient, den ganzen Apparat in die Luft zu sprengen.
(CortÖzar, Rayuela (1979) Von einer anderen "Machine celibataire", in: Reise um den Tag in 80 Welten, Frankfurt / Main 1979, S. 95-106, übersetzt aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf, Originaltitel: La vuelta al dia en ochenta mundos, Buenos Aires, 1979; hier: S. 104 ff)

37. "The Telephone Book is going to resist you. Because it operates with the logic and theme of the switchboard, it sets the destabilization of the receiver in motion. Your mission […] is to learn how to read with your ears. […] At first you may find the way the book runs to be disturbing, but we have had to break up its typographical logic. Like an electrical impulse, it is flooded with signals. To break through the hermetic sovereignty of the book, we have simulated silence and false connections, suspending the soothing rhythm of paragraphs and conventional divisions.[…] You will become sensitive to the switching on and off of interjected voices, various calls. […] Answer as you would to the telephone, for the call of the telephone is incessant […] when you hang up, it does not vanish but waits in the background. There is no switch to the technological.
(Avital Ronell, The Telephone Book, A User's Manual)

38. Es piept lang anhaltend. Die Verbindung steht. Folgende Eingaben flitzen in Realtime über den Bildschirm, so daß kaum Zeit zum Lesen bleibt:
"Geschwindigkeit für mich ist unumgänglich – email ist schnell und der Alltag hier ist schnell, die Tage verändern sich Tag für Tag -, da ich stets vor den offiziellen Worldnews liegen will. Indem ich euch da draußen darauf vorbereite, daß in nächster Zukunft etwas passiert, mache ich euch etwas unabhängiger vom Fernsehen oder den Zeitungen. ( :- " (WAM, 18.7. 1992)
Wer mitschreiben möchte, sendet Beiträge in das Brett /T-NETZ/TAGEBUCH. Wie? In die Betreffzeile zu dem Text und an den Anfang jedes Tagebuchtextes bitte Namen, Ort und (Abfassungs)- Datum schreiben.
Um weder Leser noch Schreiber zu überfordern, sollte man einen Umfang von etwa ein oder zwei Bildschirmseiten pro Woche als Richtmaß ins Auge fassen. Wichtiger als Länge ist Kontinuität. Viel Spaß beim Tagewerken. (Peter Glaser, 11.1.1993 20:53:33, der die Übersetzungen und die Koordination des Projekts übernommen hat. (p.glaser@bionic.zer.de) Das Brett T-Netz / Tagebuch ist in vielen Netzen zu finden, so auch in der //BIONIC – Mailbox (Bielefeld): 0521/68000)

39. Einen wunderbaren Überblick über Netzwerk-Aktivitäten bietet Volker Grassmuck, der auch – in Absetzung von der Gutenberg-Galaxis – gleich ein neues Paradigma für das neue Zeitalter parat hat – "Die Turing-Galaxis", die zunächst noch mit den Benutzermetaphern der Gutenberg-Galaxis arbeitet: "Der Computer tut so, als sei er Schreibmaschine, Gedrucktes und Bibliothek. […] Bibliothekare gehörten zu den ersten, die die neue Galaxis erschlossen und besiedelt haben. Mehr als tausend Bibliothekskataloge sind heute online, über siebenhundert digitale Zeitschriften, Hunderte von Volltextbüchern […] Wir beobachten heute einerseits, daß traditionelle Bibliotheken […] sich auf Volldigitalisierung und Vernetzung zuentwickeln. Andererseits hat sich in der bislang wenig bibliophilen Matrix eine Hypertextoberfläche herausgebildet, die die Millionen angeschlossenener Rechner effektiv zu einer Gesamtbibliothek mit Fernleihe auf Tastendruck machen."(Grassmuck, Volker R. (1995), Die Turing Galaxis. Das Universal-Medium auf dem Weg zur Weltsimulation, in: Lettre International, Heft 28, I/95, S. 48-55; hier: S. 51)

40. Auch die Leser des gedruckten Textes sollen (im Ansatz) zumindest ein wenig die Bewegungen und Operationsweisen nachvollziehen können, die als Merkmale hypertextueller Schreibweisen beschrieben werden. Weitere Text- Transformationen im Kontext des Projekts PooL- Processing (Heiko Idensen/Matthias Krohn – Hyper- Media-Projekte seit 1987 – eine kurze Zusammenfassung zum Ansatz von PooL-Processing findet sich in Seyfarth 1995), die diese Leserbeteiligung auf verschiedenen Ebenen zu provozieren versuchen:
Eine Navigation durch die PooL-Datenbank zur Ars Elektronica 1989 (Idensen, Heiko/Krohn, Matthias (1990a), "Connect it! Eine Navigation durch die PooL-Datenbank zur Ars Electronica 1989", in: Ars Electronica (Hg.), Im Netz der Systeme, Berlin, S. 123-140) ist der Versuch, das Symposion "Im Netz der Systeme" in den Kontext anderer Materialien des Medienkunstfestivals zu stellen: Beschreibungen, Entwendungen, Pastiches von Installationen, Katalog- und Archiv-Texte mischen sich mit Passagen aus den Vorträgen (Paul Virilio, der kurzfristig abgesagt hatte, wird über Zitate aus seinen Veröffentlichungen wieder eingeschleust). Die (übertrieben) utopischen Forderungen damaliger Medientheoretiker werden in einem post-futuristischen "Manifest für virtuelle Produktionen" persifliert: "Die Losung heißt nicht mehr, 'Der Autor muß Agent der Massen sein!', sondern 'Aus Konsumgütern PRODUKTIONSMITTEL machen!'; nicht mehr 'Alle Macht der Phantasie!', sondern 'Aus Projektionen Projektile machen!' […] Das Plagiat it notwendig! Wir alle sind Hacker, Cyber-Punker, Kopisten, Simulanten, Neuromancer, Enzyklopädisten, Kombinatoriker, Wunschmaschinen, Warhols, Ecos, Weibels, Sonys […] Freien Zugang zu allen Terminals, Datenbanken und Archiven! […] 'BEAM ME UP, SCOTTY!' " (ebd.: 139)
In "Bild-Schirm-Denken" (Idensen, Heiko/Krohn, Matthias (1994), "Bild-Schirm-Denken. Manual für hypermediale Diskurstechniken", in Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Christoph Tholen (Hg.), Computer als Medium, München, S. 245- 266) wird ein alphabetisch organisiertes Manual vorgelegt, das aus kleinsten Operationen/Handlungen zusammengesetzt ist. Durch "Hin- und Herschicken, Aussieben, Umschreiben, Löschen, Kopieren" (ebd.:246) kleinster Theorie-Momente hat sich diese Textur herausgebildet, die mit zahlreichen Querverweisen durchsetzt ist, um den Leser zum Navigieren durch den Text anzuregen:. "Das vorliegende Glossar soll zu einem enzyklopädischen Gebrauch anregen: Nachschlagen, Querverweisen folgen, Querlesen und – denken. (ebd.:245)
Der Text "Zur Natur digitaler Medienwelten" (Idensen, Heiko (1994), "Hypermedia- Kulturtechniken: Zur Natur digitaler Medienwelten", in: Jan Berg/Kay Hoffmann (Hg.), Natur und ihre filmische Auflösung, Marburg, S.S.21-52) wird vor dem Auge des Lesers auf einen Computer- Bildschirm projiziert (als Animation, Bildschirm- Schoner, durchsetzt von Systemmeldungen und entsprechenen Eingaben als Regieanweisungen). Die Entstehung von Texten aus Datenbanken und Versatzstücken aus Netzwerken mit Hilfe eines intelligenten Screen-Writers wird simuliert: Die Entstehung des Textes beim Klicken. (zu online-Aktivitäten siehe Anmerkung 49).

41. So lamentiert Bolter in seinem Buch "Writing Space" (Bolter, Jay David (1991), Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing, Hillsdale), daß der lineare Drucktext das Heraufkommen des elektronischen Buches nur annäherungsweise beschreiben kann, weil der vielfach verzweigten Struktur des elektronischen Text-Netzwerks die lineare Organisationsweise der Druckkultur mit ihren Unterordnungen und Übergängen gegenübersteht. Am schwersten sei ihm dabei der Rückfall vom vielstimmigen Hypertext in die monotone auktoriale Stimme einer einzigen (Autor-) Instanz gefallen. (ebd.:IX)

42. Dieses (vermeintliche) Ende wird in der Nachfolge McLuhans (Mc Luhan, Marshal (1968), Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf und Wien, übersetzt aus dem Amerikanischen von Dr. Max Nänny, Originaltitel (1962), The Gutenberg Galaxy, Toronto) von der aktuellen Medientheorie besungen und teilweise auch durch die Entwicklung neuer Diskursformen entsprechend in Szene gesetzt. (Lyotard 1982, Baudrillard 1982, Kittler 1993, Bolz 1993, Flusser 1987, Rötzer 1991 und 1993, Virilio 1993) – Solche "leeren Verweise" sind in digitalen Texten nicht üblich. Während die Verfasser (gedruckter) Texte sich durch eine Überfülle von Verweisen auf 'anerkannte' Diskurse selbst einen Autoritätszuwachs erhoffen – dieser 'hermeneutische Zirkel' schließt natürlich auch den Leser mit ein, der die geläufigen 'Stellen' zu kennen hat -, verzweigen digitale Texte tatsächlich zu den entsprechenden 'Stellen'. Eine solche radikaldemokratische Zugriffsweise auf die neuen Wissensformationen läßt die telematischen Kulturen auch im Lichte utopischer Gesellschaftsentwürfe erscheinen. (S.a. Idensen, Heiko (1993), "Hypertext als Utopie", in: nfd (Zeitschrift für Informationswissenschaft und -praxis), 1-93, S. 37-42).

43. So zeigt dann auch ein Vergleich der Rezeption des gedruckten Textes einerseits und der Hypertext-Version von "Writing Space" (Bolter 1991) andererseits, daß zwischen der emphatischen Hypertext-Theorie und der praktischen Umsetzung durchaus noch eine große Kluft liegt. Das einfache (mediale) Umsetzen (Digitalisieren) von gedruckten Texten in eine digitale Form ist erst der Anfang – das Umsetzen poetischer und textueller Strategien in eine interaktive digitale Dramaturgie – die dann auch dem Leser außer Klicken und Scrollen entscheidende Aktivitäten ermöglichen – ist die eigentliche Herausforderung. S.a. Riehm, U.; Böhle, K.; Wingert, B.(1992b), Bücher über Hypertext und Hypertexte der Bücher. Erfahrungen aus einer Evaluation, Karlsruhe

44. Dem Wechsel von der oralen zur Druckkultur (siehe Ong 1987) steht jetzt ein nicht minder radikaler Übergang zu einer digitalen Netzwerk-Kultur gegenüber – siehe auch Flusser (1985), Rheingold (1991), Heim (1993). Vgl Anmerkung 6 und 22.

45. Gregory Ulmer (1989) umschreibt solche Diskursexperimente ironisch als eine Fortsetzung der dekonstruktivistischen Diskurstheorien mit medialen Mitteln und verbindet in "Teletheory" Technikkultur, Wissenschaft, Populärkultur und Alltagsleben. Als Antwort auf die Reduktionen (Postmans und anderer) der Neuen Medien auf die Bild-Aspekte (des Fernsehens) sucht er nach einer neuen Praxis "elektronischen Denkens": "I would like us to participate in the invention of a style of thought as powerful and productive as was the invention of conceptual thinking that grew out of the alphabetic apparatus. I want to learn how to write and think electronically – in a way that supplements without replacing analytical reason" (ix)

46. siehe Anmerkung 40

47. Programmoberfläche: Storyspace. Im Gegensatz zu gängigen Textverarbeitungs-, Desktop-Publishing- oder auch präsentationsorientierten Hypertext-Programmen liegt der Schwerpunkt von Storyspace darin, spontane Schreib-Prozesse zu unterstützen und Strukturen für das Zusammenspiel und die Verknüpfung von Ideen zur Verfügung zu stellen. Erreicht wird diese Funktionalität durch eine Verräumlichung des Schreibaktes: Die kleinsten Schreibeinheiten (Writing- Spaces) werden als Boxen visualisiert, zwischen denen Querverbindungen durch (benennbare) Pfeile hergestellt werden können. Schreiben und Lesen wird zu einem Akt dynamischer Vernetzung von Ideenfragmenten, zu einem grafischen Mapping von Gedankenbildern. Zur elektronischen Weitergabe der Dokumente liegen eine Vielzahl unterschiedlicher Reader vor, die als selbständige Programme ablaufen. Mac und Windows-Versionen sind datenkompatibel (Quicktime-Einbindung und HTML-Export – zum Aufbau von Hypertext-Dokumenten im WWW- bisher nur in der Mac-Version).
Informationen zum Programm und zu Hypertext- Projekten über: http://northshore.shore.net/~eastgate/

48. siehe Anmerkung 5

49. Eine Möglichkeit, aus diesem gedruckten Text heraus woandershin zu kommen, liegt darin, den Computer anzuschalten und einen WWW- Browser zu starten. Eine Home-Seite mit interessanten Reisezielen (Verzeichnissen von Verzeichnissen, Verzeichnissen von online- Books und Magazinen, Kunst- und Literaturprojekten, sozialen Topographien …) kann angefordert werden bei h.idensen@bionic.zer.de – oder ist unter: "a.a.0." einzusehen in der Imaginären Bibliothek: http://www.uni- hildesheim.de/ami/pool/home.html. Hier finden sich auch Umsetzungen einiger literarischer Hypertext-Experimente, sowie einige elektronische Essays von PooL-Processing. Im Kontext der jährlichen Tagungen "HyperCult" an der Universität Lüneburg erscheint eine Hypertext-CD-ROM, die die meisten der hier angesprochen Hypertexte enthält. (Information: Martin Schreiber: 04131-714472)

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