Informationen sind schnell Wahrheit braucht Zeit

Rena Tangens und padeluun
Informationen sind schnell – Wahrheit braucht Zeit
Einige Mosaiksteine für das kollektive Netzgedächtnis

Erik Satie

„Meine Musik soll nicht mehr Bedeutung haben als die Wärme, das Licht oder die Möbel in einem Raum“, sagte der französische Komponist Erik Satie (1866-1925) sinngemäß über seine »Musique d’Ameublement«. Sie soll sich nicht in den Vordergrund drängen, die Menschen nicht faszinieren und passiv machen, sondern einen Rahmen und einen Zeit-Raum eröffnen, der ruhig und zugleich anregend ist: Das Publikum wird zur Hauptperson, ganz ohne Animation und Mitmachprogramm. Die Beobachtung ist: Wer den Raum als angenehm empfindet, sich willkommen fühlt und sich Zeit lassen kann, wird irgendwann ganz von selbst Aktivität (vielleicht auch »nur« geistige) entfalten.

Eine gute Aufführung von Erik Saties Stück Pages Mystiques braucht mindestens zwei Pianisten und mindestens 15 Stunden. Netzwerke aufbauen, pflegen und gute Software dafür gestalten braucht Jahre. Mit den Pages Mystiques , gespielt von Karin Kettling und Ulrich Sperl, waren wir 1984 auf Tour in Deutschland. Die Kunst, einen Raum für eine Pages Mystiques -Aufführung einzurichten, so dass Menschen sich darin gerne 15 Stunden aufhalten, nennen wir Rahmenbau. Oder auch Art d’Ameublement : Kunst im Sinne des französischen Komponisten Erik Satie. Wir: padeluun und Rena Tangens.

Erik Satie – der Kopf hinter Art d’Ameublement

Dieses Kunstkonzept – Art d’Ameublement – war stets die Leitidee bei all unseren folgenden Projekten: Für die Veranstaltungsreihe PUBLIC DOMAIN , für die Gestaltung des MailBox-Systems BIONIC , beim Aufbau der elektronischen Bürgernetze Z-Netz , / CL und Zamir Transnational Network und bei der Softwaregestaltung für das Zerberus MailBox-Programm. All diese Projekte boten (und bieten) vielen sehr unterschiedlichen Menschen einen Rahmen für Kommunikation, Austausch und eigene Aktivität. Ein gelungener Rahmen liefert nicht fertigen Inhalt, sondern Anregung, Orientierung, Raum für Imagination und eigene Aktion, Freiheit ohne Beliebigkeit. In der Galerie Art d’Ameublement war denn 1985 eine Veranstaltung mit dem Chaos Computer Club für viele der erste Kontakt mit einer neuen Welt: online im Rechner der Washington Post die Nachrichten von morgen lesen, war eine ganz neue Erfahrung. Und die Entscheidung war klar: Diese neue Welt wollen wir mitgestalten und sie zu einer lebenswerten Umgebung machen. So entstand die Idee der Veranstaltung PUBLIC DOMAIN …

PUBLIC DOMAIN

Der Name der Veranstaltungsreihe ist Programm: öffentlicher Raum (offen für alle) und öffentliche Angelegenheit (wir machen etwas zu unserer Angelegenheit). Seit 1987 gibt es diese monatliche Veranstaltung, die sich im Spannungsfeld von Zukunft und Gesellschaft, Technik und Umwelt, Wissenschaft und Allgemeinwissen, Kunst und Kultur bewegt.

Logo des FoeBuD e.V.

Die Themen sind vielfältig (www.foebud.org/pd/index. html). Das Publikum, auch hier handelnde Person, gründete flugs noch im selben Jahr den FoeBuD e.V. und beschloss als erstes gemeinsames Projekt ein eigenes Kommunikationssystem: die BIONIC MailBox. Aber der Reihe nach

FoeBuD

Der merkwürdige Name ist so etwas wie eine Parodie der grotesken Abkürzungen (z.B. »FeTAp mit GebAnz« = Fernsprechtischapparat mit Gebührenanzeiger) der Deutschen Bundespost, die seinerzeit noch für die Telekommunikation zuständig war. Und die Hackern, Haecksen und anderen Netzwerkern das Leben mit dem Verbot schwer machte, Modems ohne Postzulassungszeichen (das waren die, die schneller und vor allem bezahlbar waren) an die Leitung anzuschließen.

Das „Pesthörnchen“

Der Zorn gegen diese Kriminalisierung der freien Kommunikation führte beim FoeBuD zur Schaffung eines neuen Logos, einem Posthorn mit Totenkopf, kurz »Pesthörnchen« genannt – noch heute das heimliche Logo des Chaos Computer Clubs , sozusagen die Flagge der Datenpiraten. Ach ja, FoeBuD heißt: Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs. Denn wir wollten Austausch, wir wollten kommunizieren. Wir wollten MailBoxen …

MailBoxen

MailBoxen dienten in Deutschland schon lange der vernetzten Kommunikation, bevor auch nur das Wort »Internet« bekannt wurde. Der in Deutschland gebräuchliche Name »MailBox« ist etwas irreführend, da es in diesen öffentlichen Kommunikationssystemen eben nicht nur persönliche Postfächer, sondern auch öffentliche Foren, die sogenannten »Bretter«, gab. Und diese Bretter waren das eigentlich Faszinierende: Sie boten Möglichkeit, selbst zu veröffentlichen, sich auszutauschen, zum öffentlichen Diskurs. Ab etwa 1984 betrieben experimentierfreudige Menschen (z.B. Kerstin Freund in Wuppertal) MailBoxen mit Minimalausrüstung (Homecomputer, Akustikkoppler und abenteuerlichen Bastelkonstruktionen zum automatischen Telefonhörerabnehmen): Avantgardistische Kommunikationsserver.

Anfangs war noch jede MailBox eine Insel für sich. Der Austausch der Brettnachrichten mit anderen Systemen lief damals auf Diskette und per »Gelber« Post. Der endgültige Anstoß, auch die verschiedenen MailBoxen per Telefon zu einem Verbund mit gemeinsamen Brett-Nachrichtenbestand und netzweitem Mailaustausch miteinander zu verbinden, war in Deutschland dann die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 . Zu dieser Zeit wurde vielen Menschen schlagartig klar, dass die Nachrichten in den offiziellen Medien nicht ihren Bedürfnissen entsprachen und wichtige Informationen aussparten.

Zerberus, Z-Netz und /CL

So entstand das dezentral organisierte Zerberus-Netz (später zu Z-Netz abgekürzt). Der Name Zerberus kommt vom dreiköpfigen Höllenhund der griechischen Mythologie. Und symbolisierte damit schon vom Namen her: mehrere Köpfe, mehr Biss und mehr Unabhängigkeit als das hierarchische Fido-Netz . Z-Netz war das erste deutschsprachige MailBox-Netz, das Nicht-Computerthemen in den Vordergrund stellte (z.B. Umweltschutz, Politik, Datenschutz, Verbrauchertips, Literatur). Über alle wichtigen Entscheidungen, die das Netz betrafen, wurde abgestimmt und auch die Netzkoordination wurde von den beteiligten MailBoxen (später von allen Netz-Teilnehmer/innen) demokratisch gewählt – im Brett /z-netz/koordination/wahlurne . Zweimal im Jahr trafen sich die MailBox-Betreiberteams auch persönlich. Hier wurden Fragen von Technik, Inhalten, Organisation, rechtliche Fragen, die eigenen Regeln, die sich das Netz gibt (die sogenannte »Netikette«, also der Knigge fürs Netz) und auch die Visionen für die Netze aufgeworfen, diskutiert und gemeinsam weiterentwickelt. In diesen Netzen mit ihrer Selbstorganisation wurde Demokratie ständig herausgefordert, praktisch gelebt und neu erfunden.

Bald entstanden diverse Overlay-Netze, die auf den Z-Netz -Strukturen aufbauten, aber andere Inhalte transportierten und eine eigene Koordination hatten: So das T-Netz (für »teilvernetzt«, das waren im Z-Netz nicht mehrheitsfähige Bretter, z.B. t-netz/pyrotechnik ), das Solinet (Gewerkschaften und Betriebsräte), Grüne, SPD, PDS (von den entsprechenden Parteien) und das Comlink-Netz , das später /CL-Netz hieß. Das /CL-Netz ist noch klarer politisch orientiert als das Z-Netz und hatte schon früh eine Dachorganisation: Kommunikation und Neue Medien e.V., betreut von Gabriele Hooffacker und Peter Lokk aus München. Aus der /CL-Charta: »Öffentlichkeitsarbeit für soziale, ökologische und kulturelle Themen zu schaffen, ist Ziel der MailBoxen im /CL-Netz . Sie dienen der aktuellen Recherche und als Archivsystem für Texte und Informationen zu Antifaschismus, Behinderten, Bildung, Datenschutz, Energie, Frauen, Frieden, Gesundheit, Kultur, Medien, Recht, Soziales, Umwelt, Verkehr, Wirtschaft, von Pressediensten, Greenpeace und amnesty international.« Damit sind auch schon die wichtigsten Brettgruppen im /CL-Netz benannt, die dann jeweils noch in /allgemein , /aktion und /diskussion unterteilt waren. All diese Netzbiotope versammelten sich in der BIONIC-MailBox…

Die BIONIC MailBox

Der FoeBuD nannte seine MailBox BIONIC , unter anderem, weil dem System ein gewisses Eigenleben zugestanden werden sollte. Hier hatte kein allmächtiger Systembetreiber das Sagen, sondern alle aktiven Teilnehmer/innen. Keine Zensur. Alle Inhalte kommen von den Nutzerinnen selbst. Die BIONIC war von Anfang an ein Gemeinschaftsprojekt, das auch gemeinsam von allen Teilnehmer/ innen finanziert wurde. Dadurch war die MailBox nicht nur unabhängig von anderen Geldquellen, sondern vermittelte allen Beteiligten auch, dass ihnen ein Teil des Systems gehörte. Und damit das Gefühl, eine legitime Berechtigung zu haben, dieses System für die eigene Arbeit zu nutzen, Forderungen zu stellen, Vorschläge und Kritik zu äußern und mitzuarbeiten.

Dahinter stand auch die Vorstellung, dass jeder Mensch kompetent ist, und sich oft auch so äußern kann, wenn es um Themen geht, die sie oder ihn interessieren, die sie direkt betreffen oder mit ihrem Alltag und ihren Erfahrungen direkt zu tun haben.

Rena Tangens und padeluun vor der BIONIC

Und so entdeckte nach und nach eine bunte Mischung von unterschiedlichsten Menschen die BIONIC als »ihr« Kommunikationssystem: Vom Hacker zum Entwicklungshelfer, der die BIONIC aus Indonesien direkt anruft, vom Umweltzentrum, das hier eine Datenbank über Nitratwerte der Hausbrunnen der Umgebung anlegt bis zu den Hannoveraner Künstlern um Heiko Idensen, die das Zerberus -Hilfesystem kreativ zum Maschinen-Kunst-Hypertext umarbeiten. Ein Gewerkschaftsaktiver bringt das Solinet mit in die Box. Und das ZAMIR -Netz kam mit FoeBuD -Mitglied Eric Bachman, der ab 1991 , als der Krieg in Jugoslawien begann, bei den Friedensgruppen vor Ort Seminare für gewaltfreien Widerstand veranstaltete. Das Projekt, das aus seinem Engagement entstand, wurde so groß, dass es eigentlich ein eigenes Buch verdient:

Das Zamir Transnational Network

»Za Mir« bedeutet in den meisten Sprachen, die im ehemaligen Jugoslawien gesprochen werden »für den Frieden«. Das Zamir MailBox-Projekt wurde eingerichtet, um Friedens-, Menschenrechts- und Mediengruppen in den verschiedenen Landesteilen eine Möglichkeit zu geben, miteinander zu kommunizieren – und mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten. Das war deswegen so schwierig, weil die Telefonleitungen zwischen den verschiedenen Teilen Ex- Jugoslawiens unterbrochen worden waren: Von Serbien aus war es nicht möglich, ein Gespräch nach Kroatien zu führen. Auslandsleitungen funktionierten aber noch. Dieses Wissen ermöglichte den »Hack«, jegliche Embargoverfügungen zu umgehen. Die Nachrichten von der ZAMIR-BG in Belgrad wurden über die BIONIC in Bielefeld nach Zagreb zur ZAMIR-ZG geschickt und vice versa. Es gab Zamir -Systeme in Ljubljana in Slowenien, Zagreb in Kroatien, Belgrad in Serbien, Tuzla in Bosnien, Pristina im Kosovo und sogar im mehrere Jahre lang von den Serben belagerten Sarajevo in Bosnien. Für viele Menschen dort war Zamir der einzige Draht nach außen. Die MailBox in Sarajevo hatte 3 Telefonzugänge und versorgte damit 5 . 000 (!) Teilnehmer/innen. Mehr Telefonleitungen waren schlicht nicht verfügbar: Eine neue Telefonleitung zu bekommen, kostete in Sarajevo zu dieser Zeit nicht 100 DM wie in Deutschland, sondern 1 . 500 DM – und dauerte etwa drei Jahre.

Der Ansturm auf die MailBox war nur zu bewältigen, weil die Zerberus -Software stets bewusst ressourcenschonend programmiert worden war und die Teilnehmer/ innen nicht direkt online im System arbeiteten, sondern ihre Nachrichten als eine komprimierte Datei mit einem kurzen Anruf bei der Mail- Box abholten und dann ihre Post in Ruhe offline auf ihrem Rechner mit einem Pointprogramm bearbeiteten. Damit war der Telefonzugang gleich wieder frei für den nächsten Anruf.

Das Zamir Transnational Network traf auf eine Situation, in der Vorurteile, Hass und Angst zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Hintergründe sich fast widerstandslos ausgebreitet hatten. In solchen Zeiten ist die Möglichkeit zur Kommunikation, mit der Menschen sich erreichen können, neue Bekanntschaften finden oder alte Freundschaften wieder aufleben lassen können, von äußerster Wichtigkeit. Zamir diente deshalb nicht nur dem Austausch von Nachrichten innerhalb der Friedensgruppen, sondern auch dazu, die Menschen in den Gebieten der Kriegsparteien wieder miteinander kommunizieren zu lassen. Es ermöglichte so auch Flüchtlingen, sich gegenseitig wiederzufinden.

Das Open Society Institute und die Soros Foundation fanden das Projekt förderungswürdig und übernahmen die immensen Telefonkosten. Zamir wurde weltweit Thema in den Medien (www.foebud.org/archiv/zamir).

Das Zamir -Netz war zwischen 1992 und 1996 das wichtigste unabhängige Kommunikationsmedium in der Region. Es gab vielen Menschen Hoffnung und eine Möglichkeit, sich mitzuteilen. Nicht nur Freunden, sondern auch der Öffentlichkeit. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel war das …

Zagreb Diary

Wam Kat, aus der Friedensbewegung in Holland, war nach Kroatien gereist, weil er es nicht mehr ertragen konnte, den Krieg in Jugoslawien im Fernsehen zu sehen. Er landete in Zagreb und wurde Systemadministrator der ZAMIR-ZG . Ursprünglich wollte er nur ein paar Monate bleiben – es wurden mehrere Jahre. So begann er Anfang 1992 Tagebuch zu schreiben, damit seine Kinder, die er in Holland zurückgelassen hatte, wussten, was ihr Vater macht, während er fort ist. Und er schrieb öffentlich, weil auch der Rest der Welt wissen sollte, was gerade in Ex-Jugoslawien passiert.

Die zwei höchsten Bürohochhäuser in Sarajevo — ausgebrannt, aber standhaft

In seinem Zagreb Diary gibt er ausführliche Schilderungen der politischen Situation, der Kriegshandlungen, wie sie ihm von Leuten direkt berichtet wurden und kommentiert auch die Berichterstattung der lokalen Medien sowie CNN und SKY, die in Zagreb per Satellit empfangen werden können. Er beschreibt auch, was er den Tag über getan hat, seine Arbeit, welche Menschen er getroffen hat, welche Musik er gehört hat.

Gerade die Schilderung der alltäglichen Begebenheiten, die sich beim Straßenbahnfahren, Einkaufen oder beim Besuch bei Freunden zugetragen haben, gaben Außenstehenden ein facettenreiches Bild vom (nicht so ganz) normalen Leben in Kroatien und Bosnien. Er berichtet von der Verwirrung durch neue Straßennamen (nach politisch motivierter Umbenennung), von bettelnden Kriegsinvaliden in der Straßenbahn und der Beschämung der Fahrgäste, die nichts geben können, weil sie selbst nichts haben, von Menschen, die sich zum ersten Mal in einem Wahlkampf engagieren und mit selbstgebastelten Plakaten und Klebeband oder einer Tasse voll Leim plakatieren gehen. Von der Bäckerei in Sarajevo, die wegen dauernder Stromausfälle zum ersten Mal die Produktion zeitweilig einstellen musste, was sie sehr betrübte, da die Bäckerei auch ein Symbol für den Durchhaltewillen der belagerten Stadt war. Von den Parks in Sarajevo, die nach und nach zu Friedhöfen umfunktioniert wurden und von allen Fleckchen freier Erde innerhalb der Stadt, wo Gemüse ausgesät wurde, um etwas zu Essen zu produzieren.

Der Schriftsteller Peter Glaser, auch ein Nutzer der BIONIC MailBox, war vom Zagreb Diary so beeindruckt, dass er 1993 ein neues Projekt ins Leben rief, …

Das Europäische Tagebuch

Peter Glaser, Schriftsteller gebürtig aus Graz (»dort, wo die guten Schriftsteller für den Export hergestellt werden«), zu jener Zeit in Hamburg lebend und Nutzer der BIONIC-MailBox, war vom Zagreb Diary fasziniert. Als er 1993 vom Literaturhaus in Wien für die Veranstaltung »Worte brauchen keine Seiten« um einen Beitrag gebeten wurde, schlug er – anstelle des gewünschten 2-Stunden- Chats – ein Projekt mit Langzeitwirkung vor: Ein europäisches Tagebuch. Öffentlich im Brett /t-netz/tagebuch. Schon bald gibt es hier neben den Texten des Zagreb Diary eine Vielzahl von Beiträgen aus vielen verschiedenen Orten, von Hamburg, Leipzig, Essen, Martinroda, Bielefeld bis Wien.

Die Tagebuchtexte sind Momentaufnahmen, die schon kurze Zeit später – im Rückblick – so nicht mehr so geschrieben werden könnten. Die entstehenden Geschichten sind zum Teil Miniaturen mit literarischen Qualitäten, die für sich stehen und verstanden werden können. Aber sie sind auch Teil eines kollektiven Gedächtnisses. Geschichte in Geschichten. t-netz/tagebuch ist damit Vorläufer der heutigen Blogs im WWW. Die Basis war auch damals eine Software, die Freiraum schuf …

Die Zerberus Software

Durch die Entscheidung für das Zerberus- Netz – wegen seiner politischen Inhalte, wegen der dezentralen und demokratischen Struktur und wegen der klaren Ablehnung von Zensur – hatte sich die Verwendung der Zerberus-Software für die BIONIC MailBox quasi automatisch ergeben. Schon bald ergaben sich weitere Anknüpfungspunkte: Vom FoeBuD wurde ein Zerberus-Userhandbuch geschrieben. Und die Zerberus-Programmierer Wolfgang Mexner und Hartmut Schröder waren offen für Kritik und Anregungen zur Software.

Das ZERBERUS-Logo

Die erste Anregung, die verwirklicht wurde: Systembetreiber konnten nicht mehr auf dem Konsolenbildschirm mitlesen, was Teilnehmer gerade schreiben oder lesen. Und die persönlichen Postfächer wurden jetzt mit dem Userpasswort verschlüsselt abgelegt, und zwar als Standard für alle. Während es in Fido-Netz- MailBoxen noch zur Policy gehörte, dass die Systembetreiber alles mitlesen konnten und sogar persönliche Nachrichten nach Gutdünken zensierten, wurde so bei Zerberus ein Schritt unternommen, um das Machtgefälle zwischen Techniker/ innen und Nicht-Techniker/innen bzw. Systembetreiber/innen und Teilnehmer/innen etwas kleiner zu machen. Das Mitlesen von persönlichen Nachrichten wurde damals als Kavaliersdelikt angesehen, da es technisch so einfach war, solange sie im Klartext vorlagen. Bezeichnenderweise wurde die Diskussion darüber, ob das Lesen der Mail anderer Leute einen Bruch des Fernmeldegeheimnisses (Grundgesetz Artikel 10) darstellt, erst geführt, als durch die Technik vollendete Tatsachen geschaffen worden waren: Nach Installatation des Zerberus-Updates funktionierte das Mitlesen nicht mehr, beschwerten sich einige Systembetreiber… Genauso sollte es sein.

Die Gestaltung der Software hat Einfluß auf das Netz – sie bestimmt maßgeblich die Netzstrukturen und auch die Art und Weise, wie darin kommuniziert wird. Zerberus besaß von Anfang an eine Reihe charakteristischer Merkmale: Zerberus setzte auf »low tech« und »low cost« und hatte seinen Schwerpunkt auf Texttransfer. Es war damit ressourcenschonend sowohl in der Hardware-Infrastruktur als auch in den Telefonkosten, lief (und läuft noch!) äußerst stabil auch unter schwersten Bedingungen, erlaubte nicht-hierarchische, chaotische Netzstrukturen, machte damit Zensur schwer bis unmöglich und hatte bereits ein Bewusstsein für Datensicherheit und Datenschutz.

Die Bürgernetze waren die Avantgarde; Firmen folgten ins Netz – und nutzten Zerberus. Von MAN über Nedlloyd Road Cargo bis Siemens. Und sogar bei der Telekom wurde mit dem von Zerberus definierten Datenaustauschformat ZCONNECT programmiert.

Das Zerberus-Team wuchs auf sechs Personen an und wurde 1992 eine GmbH – aus Überzeugung ohne all die einige Jahre später für Internet-Firmen üblichen Accessoires: Lügen, Aktien, Drogen, Venture-Kapitalisten – und begann neben der Zerberus-Server-Software die Programmierung eines neuen Mail- und Newsclients, Charon. (Charon ist in der griechischen Mythologie der Fährmann, der die Seelen über den Styx in die Unterwelt, also auch zum Höllenhund Zerberus, geleitet.) Charon sollte auch ungeübten Nutzer/innen eine kompetente Nutzung des Netzes ermöglichen.

Einige Zeit später begann AOL, Gratis-CDs mit ihrer Zugangssoftware in jeden Briefkasten zu werfen, damit war der Markt für Mail&News-Software erst einmal ausgetrocknet und den MailBoxen nach und nach die Existenzgrundlage genommen; das Netz als sozialer Raum zur Neuentdeckung direkter Demokratie war AOLs Sache nicht, aber man konnte es sich leisten, jahrelang rote Zahlen zu schreiben. Zerberus wollte das nicht und trennte sich vom Zusatz »GmbH« und – auch dies eher untypisch – mit einem Restguthaben auf dem Konto und in Freundschaft aller Beteiligten.

Wiwiwi nang nang nang – ein interbabylonisches Kommunikationsmodell

FoeBuD bekam wegen mangelnder Hacker-/ Weltbeherrschungsallüren schon bald den Beinamen "der Club der freundlichen Genies".

1993 erreichte Art d'Ameublement eine Anfrage vom Künstlerhaus Graz, die uns baten, unsere Arbeit in Kunst und Netzen zur Abwechslung in ein sichtbares Werk zu gießen, das "ausstellbar" ist. Und so bauten wir — mit Hilfe vieler freundlicher Genies — die "wiwiwis": eine Raum/Klang-Installation mit einer Satelliten-Graugans-Peer-Group zur Illustration menschlicher und netztechnischer Kommunikationsstrukturen unabhängig von der Landessprache.

Jedes wiwiwi hat einen Korpus mit Schwanenhals und eigens entwickelter Elektronik, Flügel mit Solarzellen (unabhängige Stromversorgung für jedes wiwiwi), Watschelfüße und integrierte Lautsprecher und stehen in einer lockeren Gruppe beisammen. Nach Zufallsprinzip sagt irgendeines der Teile "wiwiwi", worauf alle anderen Elemente mit "nangnangnang" antworten.

Ein wiwiwi NANG NANG NANG

Wiwiwi-nangnangnang ist kein Smalltalk — es ist die Basis von Austausch und Verständigung. Ein Gespräch kann eine Möglichkeit sein, sich der eigenen Existenz und der anteilnehmenden Anwesenheit der anderen zu vergewissern. Das Gesprächsthema ist dabei keineswegs gleichgültig, aber es ist nicht unbedingt die wichtigste Ebene der Kommunikation.

Konrad Lorenz' Beobachtungen zur Prägung von Graugänsen (wunderschön geschildert in "Das Gänsekind Martina") und Friedemann Schulz von Thuns vier Kommunikationsebenen (Sachinformation, Beziehung, Appell und Selbstoffenbarung) inspirierten uns, unsere eigenen Erfahrungen in mit der Kommunikation in den Netzen in dieser Installation umzusetzen.

Die wiwiwis begeisterten nicht nur das Kunstpublikum, Kritiker und Presse sondern auch das Personal von zwei Fluglinien so, dass sie uns mit 8 (acht!) Teilen "Handgepäck" (darunter 6 großen grauen Boxen voll mit Elektronik, die dann doch im Gepäckraum verstaut wurden) ohne Aufpreis reisen ließen. Weitere Auftritte hatten die wiwiwis beim European Media Art Festival in Osnabrück, bei Earth Wire in England und auf der CeBIT. Fast wären sie auch von einem großen Elektronikkonzern als Brunnenplastik angekauft worden. Doch kurz vorher platzte dessen Internet-Blase.

"Publikum – noch stundenlang -/ wiwiwi und nangnangnang." (frei nach Joachim Ringelnatz)

PGP

Die Verschlüsselung der privaten Postfächer in der Zerberus MailBox-Software war ein erster Schritt, die Netz-Teilnehmer/innen vor neugierigen Menschen und kontrollwütigen Institutionen (Regierungen, Firmen, Polizei, Geheimdienste) zu schützen. Da eine Nachricht aber, wenn sie bereits einmal als Klartext über eine Telefonleitung gegangen ist (von Teilnehmer/in zur MailBox), dann kann sie nicht mehr als vertraulich angesehen werden. Wirkliche Sicherheit bietet nur eine End-zu-End-Verschlüsselung von Sender/in zu Empfänger/ in. Deshalb wurde in den Bürgernetzen Z-Netz, /CL etc. die Nutzung des Public Key Verschlüsselungsprogramms »Pretty Good Privacy«, kurz PGP, gefördert. Der FoeBuD gab 1992 das erste deutschsprachige Handbuch zu PGP heraus, das über die Jahre vier aktualisierte und erweiterte Auflagen erreichte. Das Ziel war, durch eine verständliche Anleitung möglichst vielen Menschen nahezubringen, einen »Briefumschlag für ihre persönliche elektronische Post« zu verwenden. Phil Zimmermann, der Programmierer von PGP, freute sich und berichtete 2001 am Rande eines Hackerkongresses, dass die PGP-Community in Deutschland die zweitgrößte weltweit sei.

Heutzutage wird oft argumentiert, dass doch sowieso niemand diese Mengen an Mail mitlesen könne. Muss auch kein Mensch tun – Maschinen erledigen dies völlig automatisch, fahnden z.B. nach bestimmten Absendern, analysieren, wer bei welcher Gelegenheit an wen schreibt, oder durchsuchen den Mailtext nach Schlüsselworten (berühmte Schlüsselworte: »weißes Haus«, »Bombe« »übermorgen «). Wer glaubt, dass das bei großen Datenmengen nicht geht, schaue sich die Internet-Suchmaschine Google noch einmal an und mache sich klar: Aus Terabytes (Schätzungen ändern sich täglich) an Daten, die auf Milliarden von verschiedenen Rechnern im World Wide Web verteilt liegen, werden hier auf eine Suchanfrage in Bruchteilen von Sekunden relevante Treffer gefunden.

Und weil der Übergang von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft so glatt mit der Digitalisierung und großen Freiheitsrhetorik einhergeht, wird ein neues Projekt fällig: Seit dem Jahr 2000 organisiert der FoeBuD …

Die Big Brother Awards

Die Big Brother Awards, »die 7 Oscars für Überwachung« (Le Monde), sind eine Ehrung, die bei den damit Ausgezeichneten nicht eben beliebt ist. Die Big Brother Awards brandmarken Firmen, Personen, Institutionen, die jeweils im vergangenen Jahr besonders böse aufgefallen sind durch Verletzung von Datenschutz, informationeller Selbstbestimmung und Privatsphäre der Bürger/innen, durch Installation von Überwachungsstrukturen und uferloses Datensammeln.

Der Name ist George Orwells negativer Utopie 1984 entnommen. Obwohl uns Schöne Neue Welt von Aldous Huxley und Der Prozess von Franz Kafka die treffenderen literarischen Metaphern scheinen. Die BBA-Preisskulptur, die von Peter Sommer entworfen wurde, zeigt daher auch nicht zufällig eine Passage aus Huxleys Schöne Neue Welt. Aber erstens wollen wir ja keinen Literaturpreis vergeben, zweitens weckt »Big Brother« auch bei Unbelesenen zumindest die Assoziation von Überwachung, Unfreiheit und Kontrolle, und drittens sind die Big Brother Awards ein internationales Projekt: Sie werden zur Zeit (2004) in 16 Ländern vergeben: Australien, Dänemark, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Niederlande, Italien, Japan, Finnland, Österreich, Schweiz, Spanien, Ukraine, Ungarn, USA/Kanada.

Statue und Logo der BigBrotherAwards

Die Big Brother Award Jury besteht aus Persönlichkeiten von verschiedenen Bürgerrechts-, Datenschutz- und Netzorganisationen. Die Preise werden in unterschiedlichen Kategorien vergeben: Politik, Behörden und Verwaltung, Kommunikation, Verbraucherschutz, Arbeitswelt, ein Technik/Szenepreis und einer für das »Lebenswerk«.

Zu den Ausgezeichneten gehörten u.a. die Payback-Rabattkarte (für das zentrale Sammeln umfangreicher Konsumdaten), Innenminister Schily (2001 für die Anti-Terrorgesetze, den sogenannten »Otto-Katalog«), die Bayer AG (für den Drogentest per Urinprobe bei ihren Auszubildenden), die Deutsche Postshop GmbH (für Arbeitsverträge für die Postagenturnehmer mit Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht), die Informa (für das völlig intransparente Scoringverfahren, das die Kreditwürdigkeit jedes Bürgers in einer Zahl angibt), das Ausländerzentralregister (für institutionalisierte Diskriminierung), das Bundeskriminalamt (für seine Präventivdatenbanken AUMO, REMO und LIMO), Microsoft (u.a. für Digital Rights Management), TollCollect (für Kfz-Kennzeichenerfassung aller Fahrzeuge) und die Metro AG für ihre Future Store Initiative zum Test von RFIDSchnüffelchips.

Die Big Brother Awards werden heute (2004) in Deutschland schon als feste Institution mit Watchdog-Funktion wahrgenommen: Sowohl die Zahl der Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern als auch die Menge und Qualität der Einreichungen/Vorschläge für Nominierungen nehmen beständig zu. Gelegentlich wird Firmen oder Politiker/innen bereits in der Presse mit einem möglichen Big Brother Award gedroht, wenn sie Projekte ankündigen, die Privatsphäre und Bürgerrechte potentiell gefährden. So geschehen zum Beispiel Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in einer ap-Pressemeldung zur geplanten Patientenkarte.

Politik und Verbraucherschutz reagieren auf die von den Big Brother Awards aufgeworfenen Themen, wenn auch zum Teil erst Jahre später. Zum Beispiel in Sachen Kundenkarten: Der Bundesverband der Verbraucherschutzzentralen (vzbv) hat 2003 eine Untersuchung zum Datenschutz bei Kundenkarten durchführen lassen und Justizministerin Zypries hat sich kritisch zur Datensammelwut der Kundenkarten und der Sorglosigkeit der Bürger/innen geäußert. Das führt dann direkt zur …

Privacy Card

Die Payback Rabattkarte war 2000 der Hauptgewinner bei den Big Brother Awards. Weil Datenschutz so ein trockenes Thema scheint, weil Warnungen (»Kundenkarten gefährden Ihre Privatsphäre«) und Appelle auf Verzicht irgendwie nicht sexy sind und weil wir fanden, dass Widerstand wieder Spaß machen muss – deshalb wurde die Privacy Card erfunden. Der FoeBuD gab eine eigene Plastik-Karte heraus, mit eigenem Design, aber mit einer Payback-Nummer. Endlich eine Karte, mit der Punkte gesammelt werden können, also (anders als bei Verweigerung) der angebotene Rabatt (der ja vorab auf den Preis aufgeschlagen wurde) nicht dem Konzern geschenkt wird, aber dennoch der Einkaufszettel nicht zur Sammlung von personenbezogenen Profildaten verwendet werden kann – jedenfalls nicht sinnvoll. Denn mit der Privacy Card gingen erst 1.000, dann 2.000 Menschen auf dieselbe Payback-Kartennummer einkaufen, sammelten Rabattpunkte und spendeten sie dem FoeBuD für die Organisation der Big Brother Awards. Und sie konnten auf die Frage an der Kasse »Haben Sie eine Karte?« stets mit einem strahlenden »Ja!« antworten. Als Payback den freundlichen »Hack« ihres Systems nach einem halben Jahr endlich bemerkt hatten bzw. ihn durch die zahlreichen Presseberichte zur Kenntnis nehmen mussten, kündigten sie die eine zugrundeliegende Payback-Karte – und dokumentierten damit, dass es ihnen eben nicht um Kundenbindung, Spaß haben und Punkte sammeln geht, sondern ums Datensammeln.

Die Privacy-Card des FoeBuD

Eine andere Karte, obwohl gar nicht von uns, bescherte dem FoeBuD gut zwei Jahre später noch mehr Aufmerksamkeit in In- und Ausland. Es handelte sich um die Payback-Karte des Extra Future Stores in Rheinberg bei Duisburg. Der FoeBuD entdeckte nämlich, dass eben diese Future Store Kundenkarte mit einem RFID-Chip verwanzt war – ohne jeglichen Hinweis für die Kund/innen.

Die Metro AG und die RFID-Schnüffelchips

RFID (Radio Frequency Identification) sind winzige Chips mit Antenne, die eine eindeutigen Seriennummer enthalten und ohne Sichtkontakt aus der Entfernung (das heißt: auch unbemerkt) ausgelesen werden können. RFID-Chips sollen in einigen Jahren die Barcodes auf den Waren ersetzen. Und sie bringen eine neue Dimension der Überwachung und Manipulation. Mit einer mit RFID-Chip versehenen Kundenkarte wird nicht mehr nur die Liste der Sachen, die man kauft, gespeichert, sondern eine solche Karte kann verraten, wo ich mich gerade aufhalte, wie lange und mit wem zusammen. So kann aus der Information, vor welchem Regal, in welcher Abteilung ich länger war, ein Interessenprofil generiert werden, auch ohne dass ich etwas gekauft habe. Und diese Karte kann auch in der Handtasche gelesen werden, ohne daß die Besitzerin es bemerkt.

Science Fiction? Nein, bereits gestern in Metros Future Store in Rheinberg. Der fünftgrößte Handelskonzern weltweit (in Deutschland gehören nicht nur der Metro Großhandel dazu, sondern auch Kaufhof, real, Extra, Praktiker, Saturn und Mediamarkt) bekam im Herbst 2003 den Big Brother Award für ihre Future Store- Initiative, mit der sie den Einsatz der RFID-Technologie propagieren. Und Metro testete RFID-Chips nicht nur auf einigen Waren im Laden, sondern auch heimlich in ihren Kundenkarten mit ihren Extra-Markt-Kunden als Versuchskaninchen. Bis der FoeBuD gemeinsam mit Katherine Albrecht von der amerikanischen Verbraucherorganisation CASPIAN im Februar 2004 die Schnüffelchips in den Karten entdeckte und den Fall veröffentlichte. Metro zog zurück und musste 10.000 Karten, die seit fast einem Jahr an Kunden ausgegeben worden waren, in normale Plastikkarten ohne Chip umtauschen.

Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts

Allerorts werden aus Bürgern »Kunden« gemacht, und ihnen wird suggeriert, Kunden würden besser behandelt. Ein fataler Irrtum. Kunden genießen ihre Rechte nur solange sie etwas kaufen, Bürger haben Grundrechte, die sie schützen – vor staatlichen und anderen Übergriffen. Datensammler an Schnäppchenjäger: Tausche Bürgerrechte gegen ein Linsengericht?

Demonstration vor dem Future Store in Rheinberg

Wir glauben nicht an die Freiheit, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen – und widersprechen damit den Marktfundamentalisten, die meinen, dass die Vertragsfreiheit über den Menschenrechten steht. (»Mit dem Grundgesetz dürfen Sie nicht argumentieren – das haben früher immer die Kommunisten getan.«)

Die RFID-Lobby träumt von einer Welt, in der »die Objekte kommunizieren wollen«. Die Waschmaschine mit den Socken, die Eingangstür im Supermarkt mit meiner Kundenkarte, der Seifenspender auf der Toilette mit dem Chip in der Arbeitskleidung (»did you wash your hands?«), der Kühlschrank schickt mir eine SMS, wenn die Kühlschranktür offen steht (ist einfach viel kommunikativer, als eine selbstschließende Kühlschranktür zu konstruieren), etc. pp. …

Für jede vorhandene technische Applikation lässt sich nach einigem kreativem Nachdenken auch ein Problem (er)finden. Und unser Innenminister träumt von biometrischen Daten aller Bürger/innen in ihren Pässen per RFID-Chips gespeichert und auch aus Entfernung auslesbar. Toll, bei der nächsten Demonstration von Globalisierungskritikern kann die komplette Teilnehmerliste samt Namen und Adressen ganz ohne Einkesseln mit einem RFID-Scanner vom Straßenrand aus ermittelt werden. Das ist doch sicher auch im Sinne der Demonstranten.

Die RFID-Lobby träumt von einer Welt, in der jedes Objekt eine weltweit eindeutige Seriennummer trägt. Wo analog zum Domain Name Service (DNS) des Internet ein ONS, ein zentraler Object Name Service, eingerichtet wird, also eine gigantische Datenbank für RFID-Nummern.

Vor Jahren haben wir mit Zerberus und den Bürgernetzen konkret für eine Utopie gearbeitet, jetzt kämpfen wir für die Grundlagen, ohne die eine Utopie nicht einmal mehr gedacht werden kann.

Mittlerweile gelten wir als »watchdog organisation« für Bürgerrechte in der digitalen Gesellschaft. Ich habe letzte Woche einmal im Lexikon nachgeschaut, wie »watchdog« eigentlich ins Deutsche übersetzt werden kann. In LEOs steht: Zerberus.

Ob Erik Satie sich das hat träumen lassen?

    Kontakt:

Art d´Ameublement
Rena Tangens und padeluun
Marktstr.18
D-33602 Bielefeld

Mail : art [at] foebud.org

Web : www.foebud.org, www.bigbrotherawards.de, www.tangens.de

Teile des vorliegenden Textes erscheinen auch in:
Informationen sind schnell – Wahrheit braucht Zeit. Einige Mosaiksteine für das kollektive Netzgedächtnis. Erscheint in: Pias, Claus (Hrsg.): Zukünfte des Computers. Berlin, 2004

Kommentar verfassen