Onlinejournalismus wirklich erst zehn Jahre alt?

Internet umfasst mehr als das World Wide Web. Und Journalismus mehr als den "Spiegel". Als Medium der Gegenöffentlichkeit – so lautete der Begriff damals – nutzen Journalisten die Internet-Dienste Chat, Mail und News seit den Achtziger Jahren – acht bis zehn Jahre vor der Erfindung des Web

Von Gabriele Hooffacker | 15.10.2004

 
 

Freilich war das auch vor der Erfindung der grafischen Bedienoberflächen für Computer. User tippten kryptische Befehle wie "B" für Brett (Forum) oder "L" für Lesen; Anhänge (Attachments) kamen, nachdem die entsprechenden Standards erfunden waren, nur zögernd in Mode, weil kaum jemals zwei Personen das gleiche Anwenderprogramm einsetzten. Wer eine Mail mit mehr als 20 Kilobyte versandte, wurde virtuell gesteinigt, wenn auch später sogenannte "Offline-Reader" die teuren Telefongebühren senken halfen. Wer ein Modem mit Übertragungsraten von 1.200 bit pro Sekunde besaß, wurde beneidet, galt aber, weil die Postzulassung fehlte, als kriminell – Standard waren sogenannte "Akustikkoppler" mit 300 Baud. Schon aus Sparsamkeit beschränkte man sich auf Journalismus pur: Text. Eine Chronologie.

1982

Amerikanische Journalisten und Schriftsteller träumen von elektronisch vermittelter Basisdemokratie und einem weltweiten, kostenfreien Wissens- und Informationspool. Jacques Vallee beschreibt 1982, wie er Chat und E-Mail zum Informationsaustausch mit seinem Freund Richard Bach ("Die Möwe Jonathan") nutzt: Über eine "Rankenwerk-Alternative" von Computern, die per Telefonnetz verbunden sind, wollen sie eine kritische Öffentlichkeit herstellen.

1984

Die erste E-Mail aus den USA erreicht Deutschland über den Vorläufer des Wissenschaftsnetzes.

1986

Über den Reaktor-Unfall in Tschernobyl berichtet im Mai 1986 als eine der ersten die "Bayerische Hackerpost" in ihrem Mailbox-System – zu einem Zeitpunkt, als Regierungen und Medien den Vorfall noch herunterspielen.

1987

Als regelmäßigen, tagesaktuellen Informationsdienst gründen vier junge Journalisten das Mailbox-Netz "Links". In den folgenden Jahren unternehmen die Betreiber des rasch wachsenden Netzwerks den wahnwitzigen Versuch, aus allen Nutzern Journalisten zu machen: Sie sollen zwischen Information und Meinung trennen und beides in getrennten Newsgroups veröffentlichen. Das klappt allerdings nicht mal unter Zuhilfenahme technischer Zwangsmaßnahmen.

1989

Die Bürgerrechtsbewegung der DDR nutzt im August 1989 Computer, die per Telefonnetz verbunden sind ("Mailbox-Netz"), um Grundsatzerklärungen und Stellungnahmen per Mail und News zu verbreiten. "Zentrale_Greif" nennt sich die DDR-Gruppe nach einem Spitznamen der Stasi. In einem protestantischen Pfarrhaus wird ein Laptop ans einzige Telefon weit und breit gehängt, manchmal auch des Nachts an einen "offiziellen" Telefonanschluss. Einige Male wandern auch Disketten zu einem Theologen nach Hannover.

1991

Der Mailbox GlasNet in Moskau gelingt es 1991 während des Putsches gegen Michail Gorbatschow, Lageberichte über die Panzer vor dem Moskauer Weißen Haus in alle Welt zu schmuggeln. Dabei hilft den Verfassern die dezentrale Organisation des Netzes: Die Putschisten hatten die Auslandsverbindungen gekappt, doch von Moskau gelangten die Datenpakete im Zwei-Stunden-Takt über Weißrussland und Estland nach Helsinki, von dort nach San Francisco und London, von dort über Hannover nach München. Journalisten verbreiten die Informationen, die sie auf diesem Weg erhalten, über Tageszeitungen, Radio und Fernsehen.

1992

Während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien laufen über die Diskussionsforen der Mailboxnetze täglich aktuelle Nachrichten in deutscher, serbokroatischer und englischer Sprache. Der Journalist Wam Kat publiziert sein Tagebuch aus Zagreb täglich online. Andere Absender sind Mitarbeiter von Friedensgruppen in Belgrad oder Ljubljana aus dem "Zamir"-Netz (serbokroatisch: za mir = für den Frieden); ihre Computer heißen ZAMIR-ZG oder ZAMIR-BG. Sie sorgen für Kommunikation zwischen den verfeindeten jugoslawischen Parteien.

1994

Als "Spiegel" und "Stern" online gehen, bald auch die ersten öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, sind viele der frisch gebackenen Online-Journalisten bereits alte Hasen: Sie haben schon lange vorher in den Newsgroups von Compuserve, Usenet, Fido- oder Z-Netz Erfahrungen gesammelt. Ein bisschen kommt man sich mit der schönen bunten Oberfläche als Verräter vor – die Puristen stehen nach wie vor auf ASCII-Text.

Heute dienen Newsgroups, Foren und Chats vor allem der User-Kommunikation; Beiträge in Foren sind meist meinungsorientiert. Weblogs, oft von Journalisten geführt, haben die Tagebuch-Funktion der Newsgroup-Netze übernommen und werden immer öfter auch durch digitale Fotos illustriert. Onlinejournalistische Angebote stellen die kommunikationsorientierten, usergenerierten Formen ganz selbstverständlich neben die klassischen, von Journalisten verfassten Beiträge. In Uni-Seminaren wird diskutiert, ob das nun Journalismus sei oder nicht. Wie dem auch sei: Jedenfalls beginnt der Online-Journalismus nicht erst mit dem "Spiegel" online.

 

 

URL: http://www.onlinejournalismus.de/webwatch/10jahreundmehr.html

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