Auf den Teller statt in die Tonne

Es sind Menschen wie die Obernkirchenerin Janica Reinkensmeier, die den Blick auf und den Umgang mit Lebensmitteln verändern wollen. Die Studentin der Archäologie und der Kunstgeschichte hat sich dem Thema Ernährung über die Internet-Plattform „Foodsharing“ genähert, auf der Privatpersonen, Händler und Produzenten die Möglichkeit haben, überschüssige Lebensmittel kostenlos anzubieten oder abzuholen, statt sie wegzuwerfen.

 

Die Grundidee dahinter ist so einfach wie einleuchtend: Menschen teilen Essen und geben den Lebensmitteln damit wieder einen ideellen Wert, denn sie sind mehr als bloß eine Ware.

Wer den Sündenfall datieren möchte, der wird im Jahr 1957 fündig: Mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde damals ein einheitliches und normiertes Lebensmittelangebot in den EU-Mitgliedsländern beschlossen. Gleichzeitig wurde staatliche Subventionspolitik für die Landwirtschaft in Deutschland ins Leben gerufen. Garantierte Abnahmepreise führten zu Butterbergen und Milchseen, die Älteren werden sich erinnern. Bis 1970 waren die Deutschen daran gewöhnt, saisonales Gemüse zu kaufen. Dann kam die Globalisierung der Ernährungsindustrie. Die regionale und saisonale Küche wurde durch Obst und Gemüseimporte sowie McDonald’s und Konsorten verdrängt und ausgehebelt, die kleinen Läden in den Innenstädten mussten den Supermarktketten weichen, die Wegwerfgesellschaft war geboren. Immer weniger Firmen produzierten immer mehr Nahrung, die wiederum immer schlechter und ungesünder wurde, weil bei den Nahrungsmittelherstellern nur eines zählte: Profit.

 Immer mehr Menschen essen wieder bewusster

 Seit einigen Jahren schwingt das Pendel zurück. Für immer mehr Menschen ist ein bewussterer Umgang mit Essen in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Niemand hat dies präziser formuliert als der Aktivist Wam Kat: „Die Leute wollen selbst bestimmen, wie viel Blut an ihrem Essen klebt, und nicht mehr jeden Dreck mitessen, den irgendein Konzern in der Fertignahrung untergebracht hat.“

 Vor zwei Monaten hat Janica Reinkensmeier in Leverkusen an einem mehrtägigen Foodsharing-Aktivistentreffen teilgenommen. Es gab Workshops, wie man Leute anspricht, wie vor Ort mit Läden kooperiert werden kann, wie man einen kleinen Vertrieb aufbaut. Das Problem: Während in Städten wie München, Berlin und Hamburg der Aufbau tragfähiger Strukturen kein Hindernis darstellt, „bin ich in einer Stadt wie Obernkirchen ganz allein“, sagt die Studentin, die sich jetzt als Botschafterin ausbilden lässt: bei „Lebensmittelretten“ einer Unterplattform von Foodsharing – eine Ergänzung der Tafeln und anderer Organisationen, die sich gegen die Lebensmittelverschwendung einsetzen. Die Struktur ist lokal, effizient und flach, wo sich alle mit Elan, Freude und aus innerer Überzeugung gemeinsam für eine gute Sache einsetzen. Nur: „Ich kann nicht zu Edeka gehen und sagen, ich würde zweimal die Woche vorbeikommen und die abgelaufenen Lebensmittel entgegennehmen und verteilen, weil diese Aufgabe Zuverlässigkeit erfordert.“ Und das sei in einem Studentenleben in Münster nicht leistbar: „Ich könnte krank werden oder muss eine Klausur schreiben – was dann?“ Daher sucht sie Menschen, die mitmachen.

 Es ist ein guter Zeitpunkt, um sich ehrenamtlich zu engagieren. Denn die Europäische Union hat 2014 zum „Europäischen Jahr gegen Lebensmittelverschwendung“ erklärt. Dies nimmt auch die Mindener Organisation „GreenFairPlanet“ zum Anlass, um die Thematik auch im Kreis Schaumburg in den Mittelpunkt zu rücken. Mit der Kampagne „Wir retten Lebensmittel“ möchten die ehrenamtlich Aktiven bei zahlreichen Veranstaltungen nicht nur die Wertschätzung der Nahrungsmittel in den Fokus rücken, sondern auch deren Stellenwert und Wertschätzung symbolisieren.

 Auch hier kommt Janica Reinkensmeier ins Spiel: Am Dienstag, 7. Januar, ist sie gemeinsam mit der „GreenFairPlanet“-Gründerin Elisabeth Schmelzer zu Gast beim WDR in der Sendung „Daheim und unterwegs“, um über Lebensmittelverschwendung zu sprechen, die Projekte von GreenFairPlanet vorzustellen und mit geretteten Lebensmitteln zu kochen.

 Innerhalb der EU werden jährlich aktuell 89 Millionen Tonnen Lebensmittel vernichtet, das entspricht 179 Kilogramm pro Kopf. Weltweit sind es 1,3 Milliarden Tonnen. „Das Wegwerfen von verzehrbaren Lebensmitteln ist nicht nur ein ethisches Problem angesichts einer Milliarde Menschen, die unter Hunger und Unterernährung leiden, sondern auch ein wirtschaftliches und soziales Problem“, so Elisabeth Schmelzer als Initiatorin der Kampagne.

 Die globalen Folgen der Lebensmittelverschwendung vergeudet nicht nur die Ressource Nahrung an sich, sondern auch Wasser, Boden, Energie und Arbeitszeit, die zur Herstellung benötigt werden. „Wir möchten mit unseren Aktionen begreiflich machen, was hinter den Dingen steckt, die wir essen, und Genuss nicht als Statussymbol, sondern als Freude am Leben und Wohlbefinden wecken“, sagt Elisabeth Schmelzer. Besonders hervorzuheben ist aus ihrer Sicht, dass ein breites Bündnis von Erzeugern und Vermarktern aus der Region so wie „Slow Food“, „Brot für die Welt“, „Misereor“, die „Sarah Wiener Stiftung“, „Meine Landwirtschaft“ und internationale Künstler das innovative Projekt begleiten und unterstützen. Zum vierten Mal organisiert „GreenFairPlanet“ Busse nach Berlin zur Demonstration „Wir haben Agrarindustrie satt“. Am 18. Januar protestieren Bürger, Bauern, Imker und Gärtner, Tier- und Umweltschützer, Erwerbslosen-Initiativen und Eine-Welt-Aktivisten für gutes Essen und gute Landwirtschaft für alle und weltweit. Busse fahren ab Bückeburg und Lauenau. Informationen und Anmeldung sind bei „GreenFairPlanet“, Telefon (0571) 93415707 und E-Mail an info@greenfairplanet.net, möglich.

 Denn die Folgen der Lebensmittelverschwendung sind überall feststellbar: Megaställe, die bäuerliche Landwirtschaft verdrängen und Anwohner, Regionen und Umwelt belasten; es sind Tiere, die auf viel zu engem Raum und mithilfe von Antibiotika qualvoll gehalten werden; es sind Bauern, die keine fairen Preise für ihre Erzeugnisse bekommen und von der Agrarindustrie verdrängt werden; es ist Fleisch, das in Überschüssen produziert und zu Dumpingpreisen in die Länder des Südens exportiert wird, wo es kleinbäuerliche Märkte zerstört; es sind Menschen, die in Schlachthöfen zu Dumpinglöhnen und unsozialen Bedingungen arbeiten; es ist Futter, das vielerorts in Monokulturen angebaut wird; es ist Gülle, die Böden und Trinkwasser verseucht, und es ist Essen, dem wir nicht vertrauen können.

 Jeder kann sich engagieren, sagt Janica Reinkensmeier, vor allem vor Ort, regional: „Dort kann man anpacken – und sollte es auch tun.“ Das sei auch für den Ort selbst, in dem man lebt, von Vorteil: Es verbessere das Image, wenn die Lebensmittel nicht mehr nach dem Haltbarkeitsdatum verschwendet würden.

 Es müssten mehr Mitstreiter her

 Und wie will sie helfen, wie überzeugen? „Man könnte in der Stadt einen kleinen Verteiler aufstellen.“ Dort könnten die Lebensmittel abgeholt oder verteilt werden, oder man könnte mit den Lebensmitteln in einer Kiste von Haus zu Haus gehen und in der Nachbarschaft für das Projekt werben, aber dafür müssten auch mehr Mitstreiter her. „Man könnte Schulen und Vereine ansprechen“, sagt sie, auch wenn sie weiß, dass diesem Projekt Grenzen gesetzt sind: „Lebensmittel kann man nicht im großen Stil weitergeben.“ Und: Man benötigt jemanden, der im Falle eines Falles haftet. Ob sich Stadt oder Kirchengemeinde dafür bereitfindet, das bezweifelt die 26-Jährige denn doch, weltfremd ist sie nicht. Gut vorstellen kann sie sich eine Schnippelparty, wie sie im vergangenen Jahr in Minden durchgeführt wurde: Damals haben sich einfach Aktivisten an einen langen Tisch gesetzt, die Lebensmittel, die niemand mehr wollte, klein geschnippelt, gekocht und verteilt.

 

 

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