Die Kuenstler als Katalysatoren

Hinter dem Büroraum im Schaufenster liegt die Wohnung des Künstlerpaars. Im Flur steht eine kleine Kiste, die Tangens und padeluun in der deutschen "net community" bekannter gemacht hat als in der Kunstszene: Es ist der Server der Bionic, die 1989 ans Netz ging und sich rasch zu einer der wichtigsten Mailboxen in Deutschland entwickelte. In der Kiste, die kleiner als ein Samsonite-Reisekoffer ist, haben sich in den letzten acht Jahren Freundschaften und Feindschaften entwickelt, auf der Festplatte des Computers wurde diskutiert, organisiert und Informationen ausgetauscht.

Rena Tangens und padeluun
Rena Tangens und padeluun, Foto Andreas Giekmann

Auch wenn die große Zeit der Mailboxen vorüber zu sein scheint und sich die Online-Kommunikation in die Newsgroups und Mailinglisten des Internet verlagert hat, ist die "Bionic" und ihre Betreiber immer noch eine wichtige Institution in der deutschen Netzlandschaft. In den letzten Jahren haben padeluun und Rena Tangens nicht nur das deutsche Handbuch der Verschlüsselungs-Software PGP veröffentlicht, sondern nehmen als Experten regelmäßig an Kongressen, Anhörungen in Bonn und Industriemessen wie der CeBit teil. Bei solchen Veranstaltungen reden sie meist mit Leuten, die nicht ahnen, daß sie zwei Künstler vor sich haben, die ihre diversen Vorträge, Gespräche und Artikel als Teil eines fortgesetzten Kunstwerks betrachten, an dem sie seit Mitte der achtziger Jahre arbeiten.

In "Telepolis" erzählen die beiden zum ersten Mal vom "Vorspiel in der Galerie", das zur Gründung der BIONIC, des Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoebuD) und ihren anderen Netzaktivitäten führten.

Bevor das Interview beginnen konnte, mußte ich allerdings erstmal testen, ob mein Walkman überhaupt etwas aufnahm: Das Wohnzimmer von padeluun und Rena Tangens liegt über einem Kellerraum, in dem zehn Server-Computer stehen. Und der Elektrosmog in der Wohnung hat anderen Journalisten angeblich schon die Aufnahmegeräte ruiniert…

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Tilman Baumgärtel: Auf Eurer Web-Site gibt es eine Biographie, in der es heißt: "Der Zeitraum von 1976 bis 1984 ist zur Zeit nicht dokumentiert". Mich würde als erstes interessieren, was ihr in dieser Zeit gemacht habt.

Rena Tangens: Naja, da bin ich noch zur Schule gegangen! (lacht) Und ich war viel im Ausland unterwegs. Dann habe ich in kürzester Zeit diverse Jobs gemacht – vom Friedhof bis zur Siebdruckerei – und in anderthalb Jahren eine Ausbildung in einer Werbeagentur abgeschlossen. Parallel dazu habe ich beim Bielefelder StadtBlatt den Kulturteil gestaltet, im Forum Enger das Booking gemacht, Sendungen für unseren Schwarzsender "Radio On" produziert und Experimentalfilme gedreht.

padeluun: 1976 habe ich für mich entschieden, daß ich Kunst mache. Ich habe damals in Freiburg zusammen mit Axel Brand und dem Literaten Jörg Drüssel den Organisationskreis Neues Medium (O.N.M.) gegründet. Wir gingen damals schon davon aus, daß die wichtige Kommunikation face-to-face zwischen Menschen stattfindet.

?: Und Face-to-face-Kommunikation war das "neue Medium"?

padeluun: Ja. Auch in unserer Medienwelt ist die breitbandigste Kommunikationsmöglichkeit, die direkte – wo ich alle Ebenen der Kommunikation einsetzen kann, vom des Raschelns meines Kleidungsstoffes über den Geruch bis hin zur direkten Rückmeldung via Körpersprache, die meist un- oder unterbewußt oft den wesentlichsten Gehalt der Kommunikation trägt. Die sonstigen eingesetzten Medien dienten vor allem als Aufmerksamkeitsträger – als Hinweise auf das Eigentliche, ohne das Eigentliche zu sein. Nach dem Umzug nach Berlin haben wir in diversen Kneipen und im legendären TALI-Kino "Multimedia-Perfomances" veranstaltet und mit Dia- und Filmprojektoren "bewegte Tapetenmuster" auf die Wände gezaubert. Wir haben viel mit Super-8-Filmen gearbeitet und 1981 habe ich eine Tournee mit Undergroundfilmen zusammengestellt, wo Künstlerinnen und Künstler wie Rosa von Praunheim, Martin Kippenberger und Blixa Bargeld präsentiert wurden. Auswahlkriterium war: Wer schafft, seinen Film rechtzeitig im Café Mitropa abzugeben, ist dabei.

?: Die Namen, die Du gerade nennst, kommen zum Teil aus der Szene, aus der sich damals auch die Neue Deutsche Welle entwickelt hat. Gehörtest Du zu dieser westberliner New-Wave-Szene?

padeluun: Man behauptet, daß ich das mit erfunden habe, speziell die Variante des Neo-Debilitismus. Musikalisch hatte ich allerdings mehr mit Düsseldorf zu tun, wo ich damals ebenfalls gelebt und gearbeitet habe. Ich habe auch den Düsseldorfer "Überblick" mitgegründet, und wir haben öffentliche Redaktionssitzungen veranstaltet, zu denen leider die Öffentlichkeit nur selten kam.

?: Ich erinnere mich an ein Stück von Dir, das "Nazis are no fun" hieß…

padeluun: Ja, das war Rummelplatz-Pogo. Das war eher semi-faschistoid angelegt, so mit einfachem "Hau-ruck-Rythmus", darauf haben die Punks abgepogt. Die andere Seite war "Deutschland über alles"; das war die anti-faschistische Seite, mit Streichern. Darüber mußte man schon eher nachdenken… Meine "erfolgreichste" Platte war wahrscheinlich "Keine Platte von padeluun". Die war auch in den Musikzeitungen Spex und Sounds auf Platz eins, denn fast alle Menschen auf der Welt besitzten ja "Keine Platte von padeluun". Das war klasse, weil der Großhandel die Dinger bestellt hat und die auch berechnet bekam. Die haben sich dann beschwert: "Wo ist denn die Platte?" – Und mein Plattenverlag antwortete: "Haben wir geliefert; steht doch auch auf dem Lieferschein: "Keine Platte von padeluun"".

?: Also gab es diese Platte gar nicht? padeluun: Doch, schon. Ich habe diese Platte einen Monat in einem der ersten Computer-Studios in Deutschland produziert. Das war nicht nur ein Witz; dafür wurde ganz hart gearbeitet. Wir haben versucht, sowas wie Wahrheit oder Erkenntnis oder Erfahrung auf eine Platte zu bringen. Dabei wurde klar: das geht nicht, schon aus technischen Gründen nicht. Es fehlten die vielen Ebenen der direkten Kommunikation. Also wurde es als "Keine Platte" herausgebracht. Aufgrund dessen, was dann NICHT da war, konnte wenigstens eine Ahnung herüberwehen…

?: Die Musik aus der New Wave-Zeit und die Art, wie sie präsentiert wurde, war noch sehr stark um das künstlerische Subjekt zentriert: Oben auf der Bühne steht der Sänger, unten das Publikum. Bei Techno ist das zum Beispiel anders. Wie kam es zu diesem Bewußtseinswandel von dieser New-Waver-Version des "Orginalkünstlertums" zum Gestalten von sozialen Räumen, der ihr euch später zugewendet habt?

Von New Wave zu Art d'Ameublement

Rena Tangens: Das war eigentlich gar kein Bewußtseinswandel. Du mußt auch mal sehen, was für eine Art Musik das war. Punk hatte die Botschaft: Das kannst Du auch. Drei Akkorde, und los. Es ging darum, anderen zu zeigen: Wir sind stark, das können alle, mach mal was, kommt mit auf die Bühne. Es ging darum, Menschen, die Fähigkeiten haben, klarzumachen, daß sie auch Fertigkeiten besitzen, um eine Umsetzung zu bewerkstelligen.

padeluun: Eine Super-8-Kamera gab's in jedem zweiten Haushalt, und wurde dort nicht verwendet. Das Filmmaterial konnte man klauenbei knapper Kasse einfach – hm – "organisieren" und selbst Filme machen. Es ging immer darum, anderen Leuten zu sagen: Auch du hast Produktionsmittel, auch du kannst etwas tun und dieses Medium verwenden, um etwas auszusagen, mach 'was los, lad' andere ein, mitzumachen… Wir wollten Menschen klarmachen, daß jeder Kraft und Einfluß hat. Es ging nicht darum, als Künstler mächtiger oder toller zu sein als die anderen. Naja, vielleicht ein bißchen…

?: Warst Du eigentlich auf einer Kunstakademie?

padeluun: Ja, aber erst später. Ich war an der Gesamthochschule Kassel (GHK) bei Rolf Lobeck. Ich habe auch einen Abschluß gemacht, aber ich nehme das nicht weiter ernst. Ich hatte 1982 das "Counterfilmfestival" in Berlin organisiert, danach bin ich nach Kassel gezogen, weil ich nicht mehr in einer Großstadt leben wollte, und wohnte dort im Messinghof, einem besetzten Industriegelände. Da war auch das Stadtteil-Studio der GHK mit sehr viel Videoequipment. Da wurden tolle Sachen mit Video gemacht, gegen die das meiste, was heute gemacht wird, kalter Kaffee ist. Vor allem wurde da auch ganz bewußt mit Low Tech gearbeitet. Die haben Gitarren in Fernseher eingestöpselt, und mit dem Sound das Fernsehbild verzerrt…

?: 1984, so steht auf Eurer Website, habt ihr Art d'Ameublement gegründet. Was war das?

Rena Tangens: Der Name Art d'Ameublement kommt von Erik Satie, der eine "Musique d'Ameublement" komponiert hat. Das bedeutete für ihn Musik, die nicht von anderen angestaunt und bewundert wird. Keine Musik, bei der die Leute im Publikum sitzen und zur Bühne hochschauen, sondern Musik, die benutzt wird, wie ein Möbelstück. Sie sollte keine weitere Bedeutung haben, so wie die Wärme im Raum.

?: Das würde man heute Ambient nennen…

Rena Tangens: Ja, genau. Es ging ihm darum, einen angenehmen Raum zu schaffen, in dem das Publikum sich willkommen und wohl fühlt. Eins dieser Stücke heißt "Pages Mystique", und wenn es richtig aufgeführt wird, dauert es mindestens fünfzehn Stunden. 1984 haben wir die Welturaufführung dieses Stücks in dieser Präsentationsform in der Galerie Odem in Hannover mitgestaltet, weitere Aufführungen gab es dann in Bielefeld, Mannheim, Bamberg, Marl, Karlsruhe, Bremen, Osnabrück.

padeluun: Die Sache ist: Du nimmst Dir die Zeit, und läßt Dich drauf ein. Die Leute kommen, weil sie ein Ereignis erwarten. Am Anfang sitzten alle und horchen, aber das bleibt nicht lange so. Da stehen Betten rum, da stehen Stühle rum, das ist schon mal komisch. Die Flügel ist mitten im Raum, nicht auf der Bühne, und es gibt jede Menge Sachen, mit denen man etwas anfangen kann: Videokameras, Spiele, Bücher, ein Buffet mit weißen Speisen…

Rena Tangens: Satie hat nämlich behauptet, daß er nur weiße Lebensmittel essen würde. Das stimmt zwar mit Sicherheit nicht, weil er viel zu arm war, um so eine Diät durchzuhalten. Wir haben ihn aber beim Wort genommen, den ganzen Raum weiß eingerichtet und auch nur weißes Essen angeboten: Weißbrot, Weißwein, Blumenkohl, Eier, Kefir, Hühnerfrikasse, Spargelsuppe und so weiter. Eine der besten Aufführungen war in Mannheim in der Feuerwache. Ein Journalist ist mal eben zwischendurch nach Hause gegangen, mit seiner Reiseschreibmaschine wiedergekommen, und hat dann im Konzert gesessen und seinen Artikel über das Ereignis geschrieben. Der hatte es kapiert, der wußte, das Typenhebelgeklapper stört nicht. Und dadurch haben wir gelernt: Wenn wir einen anregenden Raum anbieten, bringen die Leute auch wieder etwas zurück.

padeluun: Durch diese Konzerte hatten wir einige sehr witzige Leute kennengelernt. Ich kannte zwar auch in Berlin gute Leute. Aber es gab da nie so eine Offenheit wie in kleineren, provinziellen Städten, wie zum Beispiel hier in Bielefeld. Da haben wir uns gedacht: Da kann man auch hier bleiben, und dann haben wir hier unsere Galerie "Art d'Ameublement – Pour Les Bourgeois Noveau" aufgemacht. Das haben wir bis heute nicht bereut. Hier können wir wirklich Sachen ausprobieren, und wenn in Bielefeld etwas funktioniert, dann funktioniert es überall auf der Welt.

Rena Tangens: Bielefeld ist ja auch Testmarkt für andere Produkte, vielleicht, weil die Westfalen so stur und eigensinnig sind. Die Leute hier kommen nicht nur zu einer Vernissage, um ihre Garderobe auszuführen und ein Glas Sekt zu schlürfen, sondern weil sie die Sache an sich interessiert. Und sie kommen immer wieder und bringen wieder etwas mit, wenn sie etwas gefunden haben, was sie wirklich interessiert.

?: In einem der Texte, die damals über Eure Galerie geschrieben wurde, ist von der "Kunst des Nichts" die Rede. Damit war aber nicht gemeint, daß man sich – wie Marcel Duchamp – hinsetzt und nur noch Schach spielt, das sozusagen die Lebenskunst zur Kunst wird. Was bei Art d'Ameublement gemacht wurde, waren Aktionen und Performances, die partizipatorisch und emanzipatorisch, heute wurde man sagen: interaktiv, waren…

padeluun: Duchamp war durchaus wichtig für uns: Kunst auf diesen Nullpunkt bringen. Es gibt diese zwei Sätze: "Jeder Mensch ist ein Künstler" von Joseph Beuys und "Alles ist Kunst" von Yves Klein. Da mußte ich auch für mich erstmal rausfinden: Warum nenne ich mich eigentlich noch Berufskünstler, warum machen wir überhaupt noch Kunst. Eine Zeitlang wollten wir auch gar nicht mehr bewußt Kunst machen. Dann haben wir entschieden, daß das auch nicht richtig ist, weil dann nur noch irgendwelche Designer oder Studenten vorgeben, Kunst zu machen, und wir uns dachten: "Nein, die Kunst, die es gibt, gefällt uns nicht." Wir haben uns gesagt: es muß da ein "Weiter" geben. Wir haben dieses "Weiter" gefunden und kreuzen jetzt sozusagen "im Nullpunkt". Was ja eigentlich mathematisch unmöglich ist…

Wir haben die Galerie mit dem Bewußtsein aufgemacht, daß wir das in einer Zeit tun, in der Galerien absolut anachronistisch sind, daß man eigentlich keine festen Räume mehr anbieten dürfte. Uns war klar, daß man sowas eigentlich nicht tut, und wir haben es trotzdem getan. Das waren Versuche, sich der Kunst als Freiraum zu bedienen, um etwas zu verändern. Unsere Art Kunst zu machen ergibt kein verkäufliches Produkt. Unsere Arbeit manifestiert sich eher als Prozeß denn als Werk. Deswegen haben wir die Administration sichtbar gemacht, indem wir unser Büro ins Schaufenster gestellt haben und ein Schild dazustellten, in denen wir auf diese Form der Kunst hingewiesen haben.

Rena Tangens: In der Galerie gab es auch keine Sache, die wir hätten verkaufen können. Was wir machen wollten, haben wir damals Rahmenbau genannt. Wir haben angeboten, Firmen jeden Monat komplett neu einzurichten. Oder wir haben bei Kongress-Veranstaltungen mit ganz einfachen Mitteln gearbeitet. Zum Beispiel die Tische verändert, um Situation nahezu unmerklich zu beeinflussen. Wir wollten nicht länger künstlerische Produkte als Ablenkung schaffen. Kunst sollte sich nicht mehr auf Dekoration beschränken. In unserer eigenen Galerie haben wir aber nie selbst ausgestellt, sondern andere Künstlerinnen und Künstler eingeladen. Um eine Vision der künstlerischen Zukunft in der Gesellschaft zu definieren haben wir damals eine Reihe konzipiert, die hieß "Interregionale Mehrwert Vorstellung", bei der wir Menschen, die sich selbst nicht unbedingt als "Künstlerin" oder "Künstler" bezeichneten, eine Möglichkeit gaben, ihren eigenen täglichen Umgang mit Kunst und Kultur darzustellen. Durch unsere Auswahl und unsere Rahmenvorgabe, haben wir natürlich sehr stark Einfluß auf das inhaltliche Geschehen genommen.

padeluun: Zum Beispiel die Aktion "Peter Hale macht bei Art d'Ameublement nichts". Die war im Grunde komplett von uns konzipiert. Eigentlich wollte er für diese Perfomance eine Woche lang in unserem Schaukasten an der Straße wohnen, und dafür haben wir sogar einen Zuschuß vom Bielefelder Kulturamt bekommen. Aber bis das genehmigt war, hatte Peter keine Lust mehr auf diese Aktion..

?: Und war dann auch gar nicht da?

Rena Tangens: Doch, doch. Der ging aber, als es anfing. Die Leute wußten ja gar nicht, wie er aussieht, deswegen wußten sie auch nicht, ob er da war oder nicht. Das war eine der bestbesuchten Veranstaltungen, die jemals bei uns stattgefunden hat, ein richtiges gesellschaftliches Ereignis mit CDU-Vertreter, Boheme und so weiter…

?: Ähnliche Ansätze hat es auch in der Conceptual Art in den Sechziger und Siebziger Jahre gegeben, bei Leuten wie Chris Burden oder Vito Acconci. Waren Euch diese Vorläufer bekannt?

padeluun: Nicht im Detail. Die documenta V und VI mit ihrer "l'art pour l'art"-Botschaft hatte eine starke Ausstrahlung: diese Arbeit von Gerz in der Transsibirischen Eisenbahn, oder der "Erdkilometer" von Walter De Maria. Aber solche ähnlichen Ideen finde ich schon bei Dada. Für uns war es wichtig, diesen Nullpunkt zu definieren (in Bielefeld: 114 Meter über Normalnull), aber dann auch zu überlegen: Wo geht es von da aus hin…

Rena Tangens: Diese Ausstellunsreihe hieß deswegen auch "Interregionale Mehrwert Vorstellung". Die Frage war für uns: Wenn ich an diesem Nullpunkt bin, wo finde ich einen Ansatzpunkt, wieder etwas zu machen? Deshalb haben wir auch Leute eingeladen, die sich selbst nicht als Künstler bezeichnen, sondern Leute, die in ihrem "normalen" Leben einen Mehrwert finden.

Die Hacker in der Galerie

Bit Napping Party
Kids vor prähistorischem Computer, (Atari?) bei der ersten Bit Napping Party 1987

?: Dazu gehörte auch der ChaosComputerClub (CCC)…

padeluun: Ja, den CCC haben wir 1985 ein Wochenende lang ausgestellt. Ich kannte aus Düsseldorf Peter Glaser, und als er nach Hamburg zog, haben wir über ihn Wau Holland und andere vom CCC kennengelernt.

Rena Tangens: Das war 1982, da schleppte Sven, ein Mitbewohner von Peter Glaser, einen alten Apple II an…

padeluun: …und wir machten die ersten Games und weiß der Deibel was. Das war unglaublich…

Rena Tangens: Wir haben den CCC bei der "Mehrwert"-Reihe dann zum Kunstwerk erklärt. Das hätten die selbst wahrscheinlich nicht so gesehen, aber wir haben sie drei Tage und drei Nächte als Medienkunstwerk ausgestellt. Wobei die Nächte fast wichtiger waren als die Tage. Auf einem Rechner wurden Apfelmännchen ausgerechnet. Damals hat der Bildaufbau eines Bildes anderthalb Tage gedauert! Das Telefon wurde auseinandergenommen, und jeder, der reinkam, wurde mit der Frage begrüßt: Hast Du 'ne NUI?

?: Eine was?

padeluun: Eine "Network User Identification". Das war ein Zugangsname und – Passwort, mit dem man sich über das Datex-P-Netz der Post in die Datennetze einwählen konnte. Damals gab es ja noch keine Mailboxen oder andere Möglichkeiten für normale User, sich ins Netz zu begeben. Das gab es alles nur auf der ganz teuren Hightech-Ebene.

Rena Tangens: Diese Identifikationscodes wurden in der Regel auf Industriemessen wie der CeBit aquiriert. Es gibt Leute, die können sich aus dem Augenwinkel zwanzigzeilige Passwörter merken! Und was haben die gehackt, als sie hier waren?

Rena Tangens: Wir waren damals unter anderem in Rechner der Washington Post, um zu sehen, was die Nachrichten von morgen waren. Heute wollen die ja, das man im WorldWideWeb bei ihnen guckt, aber damals war das noch nicht legal.

?: Und wieso war das Kunst?

padeluun: Weil da wieder Leute waren, die etwas vom Leben wissen wollten, die etwas einbringen wollten und deren Augen blitzten. Diese Strukturen in der Kunst, diese ganze Kölner Galerienszene, interessierten uns nicht. Da gab es einfach nichts interessantes mehr, das einem einen Kick oder gar eine Vision gab. Aber hier war etwas, wo wir uns sagten: Da wird was passieren. Da ist ein ganz neues Denken im Umgang mit dem Leben. Das wird die Gesellschaft verändern – vielleicht sogar verbessern. Mal sehen, was dabei rauskommt.

Wir sind auf einmal lieber auf Industriemessen gegangen als auf Kunstausstellungen. Wir haben festgestellt, daß es auch bei diesen Messen Leute gibt, die ganz pfiffige, witzige Ideen haben. Wir haben uns mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien beschäftigt, weil wir gemerkt haben: Das geht überhaupt nicht in die Kultur über. Es gibt keine Transferstellen, keine wirkliche Übersetzung, die es den Leuten ermöglicht, sich geistig aus dem 18. Jahrhundert zu befreien und wenigstens schon mal ins 19. Jahrhundert vorzudringen.

?: War das auch eine bewußte Gegenreaktion auf Gruppen, wie die Mühlheimer Freiheit oder die sogenannten "jungen Wilden", die zu dieser Zeit mit im Grunde recht traditionellen Ölgemälden in der Kunstszene reüssierten?

padeluun: Mit diesen ganzen neuen Formen wie Video oder Performance, die uns interessierten, hatte der Kunsthandel ein Riesenproblem, weil es da scheinbar nichts mehr zu verkaufen gab. Diese Malerclique, die es in den achtziger Jahren gab, hat darum die Performance wieder auf die Leinwand übertragen. Diesen Akt der Arbeit konnte man dann wieder verkaufen, denn der ließ sich per Quadratzentimeter berechnen. Dadurch, daß sich alle auf diese Szene gestürzt haben, hat sich keiner mehr über die Weiterentwicklung der Kunst oder des Verkaufs von Kunst Gedanken gemacht. Das konnte man halt wunderschön in der Galerie ausstellen. Etwa so, wie heute Webseiten gestaltet statt kommuniziert wird. Aber wo ist der Austausch der Kunst mit der Gesellschaft?. Und da gab und gibt es fast nicht, außer vielleicht jemand wie Serra, der seine Eisenplatten auch schon mal mitten auf die Straße stellte…

?: Wie ist die Ausstellung des "ChaosComputerClubs" denn "von der Gesellschaft", also von den Galeriebesuchern, rezipiert worden?

Rena Tangens: Mit den Leute, die zu dieser Veranstaltung in die Galerie kamen, haben wir später den Verein zu Förderung des bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD) gegründet, aus dem dann die BIONIC hervorgegangen ist. Es waren zum Teil Leute, die die Technik interessiert hat, aber auch Leute, die eher philosophisch orientiert waren, sich aber trotzdem einen Rechner zugelegt haben.

padeluun: Das macht den FoeBuD auch bis heute aus, daß diese Leute keine reinen Technik- oder Netz-Freaks sind, sondern sich aus gesellschaftlichen und kulturellen Gründen der Sache bemächtigten. Und daß es mehr sind als nur wir beiden.

?: Heiko Idensen hat mir erzählt: Wenn padeluun und Rena irgendwo bei einer Ausstellung eingeladen waren, kam als erstes ein Mensch von der Telekom und hat gefragt, wo die Telefondose hin soll…

Rena Tangens: (lacht) Ja, wir waren die ersten, die bei der ars electronica ein Modem mitgebracht haben. Und es war einfacher, schnell mal einen neuen Telefonanschluß legen zu lassen, als die heiligen Telefonanlagen der Veranstalter aufzuschrauben…

padeluun: Wir haben auch " Ponton / Van Gogh TV" überzeugt, bei ihren documenta- und ars electronica-Projekten Kommunikationsmedien mit einzubauen.

Rena Tangens: Damals dachten die noch, das sei BTX…

padeluun: Das ist in Deutschland übrigens wirklich ein Problem: Die Projekte von denen waren absolut innovativ, und heute tauchen viele ihrer Ideen im Fernsehen auf. Aber die Leute, die diese gehabt und umgesetzt haben, verelenden. Das geht hin bis zur Gesellschaft für Mathematische Datenverarbeitung, die dieses virtuelle Fernsehstudio eingerichtet haben. Sowas haben Van Gogh TV schon viel früher gemacht. Aber die werden noch nicht mal mehr erwähnt, weil die Fernsehleute sonst zugeben müßten, daß sie bei denen geklaut haben. Wobei nicht das "Klauen" an sich verwerflich ist, sondern, daß kein finanzieller Ausgleich geschaffen worden ist, sodaß die Künstler weiterleben und-arbeiten können.

Aus Galeristen werden Mailboxbetreiber

Bionic
Rena Tangens und padeluun vor der BIONIC

?: Die Ausstellung des CCC war eine Eurer letzten "richtigen"Ausstellungen. Könnt Ihr den Übergang vom Betrieb einer Galerie zum Betrieb einer Mailbox beschreiben?

padeluun: Uns war schon immer klar: Wenn es eine Weitergabe von Wissen, Erfahrungen geben soll, dann geht es nur über den persönlichen Austausch. Wir hatten beim ChaosCommunicationCongress in Hamburg gesehen, wie klasse das ist, wenn sich Leute über technische Mittel verständigen können, und miteinander eine Erfahrungsebene aufbauen, die eben nicht nur im Kaufhaus stattfindet…

Rena Tangens: Wir wollten einen Treffpunkt für Leute schaffen, die sich für Technik, Wissenschaft, Zukunft interessieren, und was das mit Kunst und Kultur zu tun hat. Das war die Veranstaltungsreihe "Public Domain", die wir seit Anfang 1987 einmal im Monat in dem Jazz-Keller und Jugendzentrum "Bunker Ulmenwall" gemacht haben. Das machen wir übrigens heute noch.

padeluun: Wir haben damals ganz bewußt gesagt: Wir machen kein Programm, sondern wir sagen nur: das ist ein Treffpunkt.

Rena Tangens: Bei der ersten Veranstaltung standen hundert Leute vor der Tür, und erwarteten, daß sie wie bei einer Messe alles vorgeführt bekommen. Wir hatten da aber nur zwei geliehene Rechner hingestellt, weil wir – außer unserem ZX Spektrum, der die ganze Zeit nur ein bißchen auf einem Monitor herumkrakelte – selbst noch nicht mal einen Computer hatten.

padeluun: Wir wollten, daß die Leute miteinander für sich klar bekommen, was sie mit diesen Geräten eigentlich machen wollen. Wir waren ja keine Technikbegeisterten, die das alles ganz geil fanden. Es sollte ein Freiraum werden, der von den Besuchern genutzt werden sollte. Der wurde dann auch genutzt, und zwar mit der einfachstmöglichen Anwendung, nämlich Kopieren.

Rena Tangens: Es gab da durchaus den "Jugend-forscht"-Aspekt. Durch das Cracken, also das Entfernen vom Kopierschutz von Programmen, und das Demo- und Vorspannschreiben haben viele Kids hier hervorragend programmieren gelernt.

Es gab natürlich auch ganz geniale Sachen, wo zum Beispiel ein spontaner Programmierwettbewerb Amiga gegen Atari stattfand, so eins, zwei, drei und los! Und wehe, die bewegte Schrift ruckelt! Damals standen ja noch nicht überall Computer rum. Die Leute kamen von überall her und lernten sich bei der "Public Domain" kennen. Besonders für Atari-Leute wurde das *der* Treffpunkt. Wir sind auch mit nach Venlo in Holland gefahren. Da gab es damals Cracker-Treffen, wo nicht 50 Rechner rumstanden, sondern 500! Und das Kopieren und Cracken war damals eine Jugendbewegung – die bis heute nicht so recht in das Bewußtsein der Gesellschaft vorgedrungen ist.

Die erste Idee, die aus der Szene kam, war ein Typ, der zu uns kam und sagte: Laß uns doch mal so eine richtig illegale Raubkopier-Party machen. Die "Public Domain" war ja noch eher ein nettes Treffen. Wir haben gesagt: Okay, das machen wir — Das war dann unsere erste Hausdurchsuchung…

Rena Tangens: Die Einladung für die erste Bit-Napping-Party hatte diverse Sicherheitsmerkmale, damit man sie nicht einfach kopieren oder der Kripo geben konnte: Sie war nicht in schwarz, sondern in dunkelblau gedruckt. Außerdem war sie laminiert, numeriert, und alle hatten einen Stempel, den man nur unter Schwarzlicht sehen konnte.

padeluun: Darauf stand "modernste Kunst" (lacht). Aber durchsucht worden sind wir trotzdem, weil jemand einen Tip an die Polizei weitergegeben hatte. Es kamen mehr und mehr Leute, bis uns das zu heavy und wegen der Shareware-Konzepte auch unnötig wurde. Darum haben wir angefangen, jeder "Public Domain" ein Thema zu geben und Refernten einzuladen. Der erste war über "Data Encryption Standard (DES)". Da saßen im einen Raum die Kopierwütigen und im selben Raum wurde referiert.

Rena Tangens: Durch die Hausdurchsuchungen, die damals nicht nur bei uns stattfanden, hat sich bei den Crackern zum ersten Mal ein gewisses politisches Bewußtsein entwickelt. Plötzlich haben die gemerkt, daß sie bei dem Vortrag zu "Verschlüsselung mit DES" besser aufgepaßt hätten und ihre Adressenlisten nicht offen rumliegen lassen sollten. Damals wurden dann zwei Verschlüsselungsprogramme in Bielefeld geschrieben.

Public Domain und die Anfänge von BIONIC

CCC Mandelbrot Grafiken
Mandelbrotgrafiken in der CCC Ausstellung

?: Aus dieser Szene ist die BIONIC entstanden?

Rena Tangens: Um für die "Public-Domain"-Veranstaltung leichter Geräte ausleihen zu können, haben wir den FoeBuD (Verein zur Förderung des bewegten und unbewegten Datenverkehrs) gegründet, der mittlerweile als gemeinnütziger Verein anerkannt ist. Eine der Ideen, die da aufkamen, war: Wir wollen ein eigenes Mailbox-System haben. Es gab hier nichts vor Ort, außer einer Mailbox von einem ehemaligen Polizisten, der alles im Griff haben wollte. Da hast Du Dich eingeloggt, und der hat Dich sofort angechattet. Von dem wurdest Du nur gegängelt; der hat seine Nase in alle Nachrichten gesteckt, auch die Privatpost. Zum Teil hat er sogar private Nachrichten abgefangen und vor dem Versenden gelöscht! Darum haben wir gesagt: Wir wollen ein System, in dem interessante Inhalte stehen und über das wir selbst bestimmen können. Wir haben uns dann für die Mailbox-Software Zerberus entschieden, in der wir später dafür sorgten, daß die Postfächer der Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschlüsselt sind…

padeluun: …und wo Du verhindern kannst, daß der Sysop Dich anchattet. Der Befehl hat im Sourcecode den Kommentar: "Felix kein Bock auf Dirk". "Felix" ist einer der Pogrammierer und "Dirk" war der Sysop, der ihn immer anchattete…

Rena Tangens: Die Dokumentation des Programms war so chaotisch, daß ich mir gedacht habe: Nur Korrekturlesen des Handbuchs reicht nicht, das muß komplett neu geschrieben werden. Daraus ist das "Zerberus"-Handbuch für die Bionic-Teilnehmerinnen entstanden. Davon waren die Programmierer von Zerberus so angetan, daß sie gefragt haben, ob wir nicht auch das Handbuch für die Systembetreuung schreiben könnten. Das haben wir dann auch gemacht, und es ist ein 700-seitiges Werk geworden.

?: Die Idee, eine Mailbox zu gründen, klingt ebenfalls wie eine Fortsetzung Eurer vorherigen Kunstprojekte, bloß mit anderen technologischen Mitteln. Ging es Euch darum, mit dieser Mailbox wieder ein "Enviroment" oder einen neuen sozialen Raum zu schaffen, in dem Leute miteinander kommunizieren können?

Rena Tangens: Ja, völlig klar. Mit dem Namen "Bionic" verbindet sich auch die Vorstellung eines eigenständigen Lebewesens. Die meisten Mailbox-Betreiber, und das sage ich jetzt absichtlich männlich, haben sich zu dieser Zeit so als Fürst auf ihrem Hügel verstanden, wo sie die Macht über das haben, was die Leute dort machen, denn es ist ja *ihr* Computer. Wir haben die Bionic immer als etwas Eigenständiges betrachtet, wo wir uns nicht um alles kümmern müssen. Und wenn sich jemand daneben benimmt, dann kümmern sich eben auch andere darum, weil sich viele verantwortlich fühlen.

padeluun: Gleichzeitig haben wir aber gesehen, daß wir auch an den technischen Strukturen arbeiten müssen. Als wir bei der documenta VIII ausstellten, mußten wir den Datex P-Knoten in Berlin anrufen, weil es in Kassel keinen gab. Diese Kommunikationskosten waren einfach nicht tragbar. Wir haben zum Teil Telefonrechnungen von 3000 Mark gehabt. Wir haben gedacht: Hier wird etwas verborgen, hier wird den Leuten etwas vorenthalten. Und eine Mailbox ist eine billige Methode, mit der viele Leute sich in ein Datennetz begeben können.

Rena Tangens: Wichtig war für uns, daß es vor Ort eine lokale Struktur gibt und daß die Technik billig sein muß. Mit Zerberus und dem Z-Netz und dem /CL-Netz konnten Menschen, die das tun wollten, mit nicht viel mehr als einem Modem, einem einfachen PC und einer Telefonleitung selber ein Publikationsmedium aufmachen.

Die Mailbox als soziale Gemeinschaft

Einladung zur Bit Napping Party
Einladung zur Bit Napping Party mit Originalstempel

?: Ich habe den Eindruck, daß es einen wichtigen Unterschied zwischen Mailboxen und dem Internet gibt: In Mailboxen scheint es oft einen viel stärkeren Gemeinschaftssinn zu geben – vielleicht weil sie lokal verankert sind und darum der Nutzerkreis kleiner und überschaubarer ist. Eventuell kann man ja sogar seinen Nachbarn online "treffen", und darum scheinen sich dabei leichter "virtuelle Gemeinschaften" zu entwicklen…

Rena Tangens: Das ist ein ganz interessantes Thema, an dem ich zur Zeit arbeite: In welcher Art von Online-Gemeinschaft hat man eine angenehme Atmosphäre. Die hast du in vielen Newsgroups im Internet nämlich nicht mehr. Darum sind viele Leute gar nicht mehr bereit, da zu schreiben, weil sie sehen, daß es gar keinen Dank durch Austausch mehr gibt und weil man in einem ziemlich unangenehmen Umfeld steht: Überschüttung mit Werbemails, Flames und so weiter… Ich glaube, daß es ganz wichtig ist, daß die Leute sich für ihr System verantwortlich fühlen und daß sie sich auch persönlich treffen.

padeluun: Die Bionic ist deswegen so groß geworden, weil so viele Leute in ihr ihre Ideen verwirklich haben. In anderen Städten hat jede Szene eine eigene Mailbox aufgemacht, aber bei uns haben sich Leute aus den verschiedensten Gruppen zusammengefunden: das Umweltzentrum hat eine Datenbank mit Nitratdaten angelegt, das Soli-Net ist über einen Gewerkschafts-Aktiven dazu gekommen, Heiko Idensen von Pool Processing hat bei uns seine ersten Online-Experimente mit Hypertext gemacht etc.

?: Am bekanntesten von diesen Initiativen in der BIONIC ist wohl das Zamir-Net geworden…

Rena Tangens: Das kam von Eric Bachman, einem radikalen Pazifisten, der aus den USA ausgewandert war, weil er keinen Kriegsdienst leisten wollte. Der war in Jugoslawien, als sich da der Bürgerkrieg anbahnte, und hat mit verschiedenen Friedens- und Menschenrechtsgruppen zusammengearbeitet. Für die war ein großes Problem, daß sie nicht miteinander kommunizieren konnten, weil die Telefonleitungen zwischen Serbien und Kroatien blockiert wurden. Darum wurde das Projekt "Communication Aid" ins Leben gerufen, bei dem Faxe nach London geschickt und von dort zurück in die anderen Landesteile Jugoslaviens weitergeleitet wurden. Das war sehr umständlich, und darum sind die Leute in Zagreb auf die Idee gekommen, daß das mit Computer und Modem viel einfacher geht. Darum hat Eric Bachman sich von uns zeigen lassen, wie einfach sich mit Zerberus ein Computernetzwerk aufbauen läßt.

padeluun: Wir haben damals gar nicht kapiert, wie wichtig das werden würde…

Rena Tangens: Anfangs war der Knoten, über den die Nachrichten geschickt wurden, in Wien. Aber der wurde dann zur Bionic verlegt, weil der Service hier zuverlässiger war. Die Daten werden von zum Beispiel Belgrad zu uns geschickt, und dann von uns vollautomatisch nach Zagreb weitergeleitet.

?: Läuft das immer noch? Ich dachte, sowas wäre jetzt nicht mehr nötig?

Rena Tangens: Großer Irrtum! Man muß sich immer vor Augen halten, was da technisch möglich ist. In Zagreb dauert es zwei Jahre, um eine neue Telefonleitung zu bekommen, und das kostet 1500 Mark und nicht 65 DM wie bei uns! In Belgrad und Sarajevo ist es nicht anders. Die Rechner, die da vorhanden sind, sind zum Großteil uralte 286er. Mit einem Programm wie Crosspoint kann man auf so einem Computer arbeiten, aber im WorldWideWeb kann man mit dieser Technik nicht surfen. Deswegen sind LowTech-Methoden wie Mailbox für ein Land wie Jugoslawien besonders geeignet.

?: Rena, Du selbst hast in Jugoslawien vor allem mit Frauen gearbeitet. Kannst Du darüber etwas erzählen?

Rena Tangens: Interessanterweise sind in Ex-Jugoslawien viele Frauen online. Die Gesellschaft ist dort an sich sehr patriarchalisch strukturiert. Aber der Krieg hat es mit sich gebracht, daß Frauen viele Aufgaben übernommen haben, mit denen sie vorher nichts zu tun hatten. Die meisten, die online gegangen sind, hatten auch ein konkretes Anliegen – vermißte Angehörige wiederfinden, mit ehemaligen Nachbarn Kontakt aufnehmen, Flüchtlingshilfe, Engagement gegen Krieg und Nationalismus.

Es gibt dort sehr aktive Frauen, die mit Mailboxen arbeiten. Zum Beispiel haben Frauen aus der Zenska Infoteka – das ist das Fraueninformationszentrum in Zagreb – eine serbo-kroatische Anleitung für das Mailprogramm Crosspoint geschrieben. Die Infoteka veranstaltet auch Seminare für Frauen. Eins davon habe ich gemeinsam mit einer Frau von GreeNet London gestaltet. Dazu waren Frauen aus allen Regionen eingeladen – Ljubljana, Zagreb, Dubrovnik, Split, Ossijek, Belgrad, Tuzla, Zenica, Sarajevo, Skopje. Die Belgraderinnen haben leider kein Visum bekommen, alle anderen sind gekommen. Am Ende des Seminars ist an jede Region ein Rechner gegeben worden. Mit der Auflage an die Frauen, daß sie ihr gerade erworbenes Wissen bei sich vor Ort weitergeben und daß sie jede Woche mindestens einmal etwas in die ZAMIR-Bretter schreiben. Ein geniales Konzept finde ich – so werden die Erfahrungen und der Alltag von Frauen sichtbar.

?: Im Zusammenhang mit dem Zamir-Net hat es in der BIONIC auch eins der größten Experimente mit kollaborativen Schreiben gegeben: Das europäische Tagebuch.

padeluun: Wam Kat aus Zagreb schreibt seit 1992 ein Tagebuch, das er über die Netze veröffentlicht. Peter Glaser war vom "Zagreb Diary" sehr beeindruckt. Er hat einige Texte übersetzt, und in die BIONIC eingespielt. Dann hat er im Rahmen der Wiener Literaturtage dazu aufgerufen, selbst Tagebuch zu schreiben, um ein vielfältiges Bild von Europa dadurch herzustellen, daß viele Leute etwas über ihren Alltag berichten.

Rena Tangens: In dem Brett T-NETZ/TAGEBUCH sind echte Juwelen geschrieben worden sind. Da gab es Sachen aus Wien, aus Hamburg, aus Bielefeld, aus dem Ruhrgebiet, aus Martinroda, aus Leipzig. In diesem Brett finden wir ein wunderbar facettenreiches Bild vom Jahr 1993. Wenn man das heute liest, fallen einem ganz viele Sachen wieder ein, die sich da ereignet haben.

padeluun: Das Brett ist leider ein bißchen eingeschlafen. Sowas läuft nur, wenn sich jemand immer weiter darum kümmert. Sonst verwildert der Kommunikationskanal.

?: Könnte man sagen, daß die Bionic eine "soziale Skulptur" im Sinne von Beuys ist?

padeluun: Kann sein. Dazu weiß ich zu wenig darüber, was Beuys damit gemeint hat.

Rena Tangens: Das haben sehr viele gesagt, wenn ich über die BIONIC erzählt habe. Insofern ist es wahrscheinlich, daß es stimmt… (lacht)

?: Wenn man in Eure Bio schaut, fällt auf, daß ihr in den letzten Jahren immer seltener an Kunstausstellungen teilgenommen habt, aber immer öfter an der CeBit, an Anhörungen in Bonn oder bei Software-Unternehmen. Ihr gehört heute zu den wichtigsten Lobbyisten der deutschen Netz-Community. Habt ihr euch aus der Kunstproduktion verabschiedet?

Rena Tangens: Nein. Das hat immer noch mit Kunst zu tun, nämlichEinfluß auf den Rahmen zu nehmen. In diesem Fall auf den kulturellen, politischen und gesetzlichen Rahmen, in dem Online-Kommunikation stattfindet. Auch das ist "Rahmenbau". Vielleicht wird das erst später verstanden werden…

Aber wir haben in letzter Zeit auch Sachen gemacht, die wahrscheinlich für Außenstehende leichter als Kunst begreifbar sind: Zum Beispiel "wiwiwi – nang nang nang", ein interbabylonisches Kommunikationskunstwerk. Das ist eine Gruppe von Skulpturen. Sie sehen ein bißchen wie Gänse aus, mit Watschelfüßen, einem Schwanenhals, Solarzellen auf den Flügeln, Lautsprechern und eigens entwickelter Elektronik im Bauch. Sie sind nicht miteinander verkabelt und auch sonst mit ihren Solarzellen ganz autark. Diese "Satelliten-Gänse" können sprechen. Von Zeit zu Zeit – nach Zufallsprinzip – sagt irgendeine von ihnen "wiwiwi". Dann antworten alle anderen: "nang nang nang". Das wird übrigens in allen Sprachen verstanden…

Vorspann
Die Künstler als Katalysatoren
Anhang: Publikationen, Ausstellungen usw.

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