Her mit den krummen Gurken!

Lebensmittelverschwendung

Spiegel Online 22-1-2012

Lebensmittel gibt es in Deutschland im ueberfluss: Millionen Tonnen Brot, Obst, Fleisch und Milchprodukte landen jedes Jahr im Muell. Immer mehr Menschen halten das fuer untragbar – und einige tun etwas dagegen.

„Milch? Milch kommt aus der Fabrik.“ Solche Antworten bekommt Wam Kat nicht selten zu hoeren, wenn er mit „seinen“ Hauptschuelern in den sozialen Brennpunkten deutscher Grossstaedte zusammen kocht. Fragt er dann nach, woher wohl die Fabrik das weisse Zeug beziehe, heisst es: „Die machen die halt.“

Eigentlich kann Wam Kat nichts so schnell vom Hocker hauen. Seit 30 Jahren holpert der Koch mit seiner mobilen Kueche, der „Flaeming Kitchen“ durch Europa, hat Castor-Gegner und Politiker, Obdachlose und Kriegsfluechtlinge auf dem Balkan bekocht. Mit seinem ergrauten Pferdeschwanz, der tief in der Stirn gezogenen Seemannsmuetze und den stets knallbunten Strickpullovern wirkt der gebuertige Niederlaender, als haette er die 70er Jahre nie wirklich verlassen. Die Lachfalten im Gesicht erzaehlen, dass er schon viel erlebt hat. Aber wenn er Kindern begegnet, die nicht mehr wissen, wie eine Tomate aussieht, schuettelt er den Kopf und findet das „einfach nur skurril“.

In den letzten Monaten ist in Deutschland viel darueber geredet worden, warum so viel Essen im Muell landet. Bis zu 20 Millionen Tonnen seien das auf dem Weg vom Feld bis zum Teller, schaetzt Filmemacher Valentin Thurn in seinem Kinofilm „Taste the Waste“. Zigtausende Zuschauer haben die Dokumentation bereits gesehen. Aufgeschreckt von der gigantischen Verschwendung gab Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner Studien in Auftrag und Guenther Jauch diskutierte mit Muelltauchern und dem Handel, warum jeder europaeische Verbraucher im Schnitt 100 Kilo Lebensmittel pro Jahr wegwirft.

Wertschaetzung fuer Lebensmittel ist gering

Wie bei anderen Missstaenden auch, wird der Schwarze Peter gerne weitergereicht, von Verbrauchern an den Handel, vom Handel an die Politik und zurueck. Wam Kat kennt das Verhaeltnis der Deutschen zu ihrem Essen wie nur wenige, und eines beobachtet er immer wieder als Ursache fuer die Verschwendung: Die Kinder und ihre Eltern wuessten einfach nicht mehr, wo ihr Essen herkommt, deshalb lande eben auch viel in der Tonne. „Die Wertschaetzung fuer Lebensmittel ist so gering“, sagt Wam Kat, „dass man sich fragen muss: Wie sieht das erst eine Generation spaeter aus?“

Waehrend Politiker viel ueber die Verschwendung geredet haben, hat Wam Kat gehandelt. Mit seinem Kuechen-Mobil fuhr er im September erst nach Berlin, dann nach Stuttgart. Grundschueler hatten jeweils am Vortag auf Feldern in der Umgebung Kartoffeln und Kuerbisse eingesammelt, die sonst liegen geblieben waeren – schaetzungsweise 40 bis 50 Prozent der gesamten Ernte. Eine Tonne Lebensmittel kam so an den zwei Tagen zusammen.

„Teller statt Tonne“

„Das sind ganz normale Kartoffeln“, sagt Wam Kat, „nur etwas zu klein, zu gross oder zu unfoermig, deshalb will der Handel sie nicht.“ In Berlin konnten davon 800 Leute satt werden, in Stuttgart waren es ueber 2000. Kaum etwas blieb auf den Tellern liegen, viele Leute holten mehrmals Nachschlag, kostenlos. „Teller statt Tonne“ nannten sie die Aktion, die das Kochen zum Politikum erhob.

„Das Aussehen der Lebensmittel bestimmt heute alles: ob sie auf dem Teller landen oder gar nicht erst geerntet werden“, sagt Anke Klitzing von der Organisation Slow Food Deutschland. „Dabei gibt es kaum noch offizielle Handelsnormen, die solche optischen Kriterien festlegen.“

Tatsaechlich hat die ehemalige EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel schon 2009 auf einen Schlag 26 Handelsnormen fuer Obst und Gemuese abgeschafft, darunter auch die Vorschrift, wie krumm eine Salatgurke sein durfte (hoechstens 10 Millimeter auf 10 Zentimeter Gurkenlaenge). Die beruehmte genormte Gurke, Symbol europaeischer Regulierungswut und Buergerferne, war damit rechtlich gesehen tot. Praktisch ist sie heute lebendiger als zuvor. Denn seither hat jedes grosse Handelsunternehmen eigene Normen fuer Form, Farbe und Groesse erlassen. Geschmack oder Naehrwert interessieren dabei nicht.

Fuer die Bauern ist die Situation damit eher schwieriger geworden, weil sie fuer ihr Gemuese nicht mehr nur eine europaeische, sondern eine Vielzahl an Normen kennen und respektieren muessen. „Es bleibt ihnen gar nichts uebrig, als schon bei der Ernte auszusortieren“, so Klitzing. „Wir muessen aber auch Alternativen fuer die Leute anbieten, die sich der krummen Gurken annehmen.“ Sie denkt dabei an alternative Vertriebskanaele wie regionale Bauernmaerkte, oder spezielle Angebote fuer unfoermiges Gemuese im Supermarkt.

2. Teil: Lebensmittel einsparen als erfolgreiches Geschaeftsmodell

Auch die Politik beginnt allmaehlich, sich darueber Gedanken zu machen, welche Taten ihren zahlreichen Worten nun folgen sollen. Im Oktober versuchten einzelne Bundestagsabgeordnete, das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) zu reformieren, also einen treffenderen Begriff dafuer zu finden – in Grossbritannien steht etwa „Best Before“ („mindesthaltbar bis“) auf den Packungen. Das zustaendige Verbraucherschutzministerium lehnte jedoch ab.

Dabei gilt das MHD als ein wesentlicher Grund, warum so viel Essen weggeworfen wird. „Das Haltbarkeitsdatum wird leider kollektiv falsch interpretiert“, sagt Petra Teitscheid, oekotrophologin an der Fachhochschule Muenster. Denn das MHD garantiert lediglich eine bestimmte Konsistenz oder einen exakten Geschmack. „Mit Verderb hat es nichts zu tun“, sagt die Forscherin. Das sogenannte Verbrauchsdatum, das etwa auf frischem Fleisch oder Fisch abgedruckt ist, muss hingegen unbedingt beachtet werden, es signalisiert eine Gefahr fuer die Gesundheit. Vielen Verbrauchern sei dieser Unterschied aber nicht klar, vermutet Teitscheid.

Sie selbst arbeitet an einer Studie zu den Ursachen der Lebensmittelverschwendung fuer das Umweltministerium Nordrhein-Westfalens. Das Bundesland sieht sich als Pionier im Kampf gegen das Wegwerfen von Nahrungsmitteln. Umweltminister Johannes Remmel hat dazu Ende 2010 einen runden Tisch ins Leben gerufen, an dem Vertreter von Landwirtschaft,Lebensmittelindustrie, Handel und Hochschulen sitzen. Bisher faellt seine Bilanz jedoch mager aus: Konkrete Ergebnisse gebe es bislang nicht, dazu muesse erst die Studie der FH Muenster vorliegen, erklaert ein Sprecher. Erste Beschluesse koenne man deshalb erst „im Laufe des Jahres 2012“ erwarten. Auch Ilse Aigner hat eine Studie in Auftrag gegeben, Ergebnisse sollen Anfang 2012 vorliegen. Waehrend sich die Forscher aus NRW eher mit den Gruenden des Wegwerfens beschaeftigen, moechte der Bund klaeren, wie viel Lebensmittel genau in der Tonne landen. So genau weiss das bislang noch keiner.

„Zum Glueck sammeln die Politiker jetzt endlich Zahlen, das war bis jetzt ein grosses Manko“, sagt Regisseur Valentin Thurn, der mit „Taste the Waste“ das Thema Lebensmittelverschwendung ueberhaupt erst ins oeffentliche Licht gerueckt hat. „Mit Studien allein ist es aber nicht getan.“ Ob es nun zehn oder 20 Millionen Tonnen seien, die weggeworfen werden, spiele fuer die Loesung des Problems doch nur eine untergeordnete Rolle. Thurn wuenscht sich etwa einen Ideenwettbewerb, wie sich Lebensmittel sparsamer verarbeiten lassen, eine staerkere Einbindung von Fachleuten in die Debatte, und innovative Konzepte im Supermarkt.

Produkte vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums umsonst mitnehmen

In Holland ruft eine Supermarktkette ihre Kunden etwa gezielt auf, nach Produkten zu suchen, die kurz vor dem Ablauf des Haltbarkeitsdatums stehen. Diese duerfen dann einfach umsonst mitgenommen werden. Im Film schlaegt Thurn eine weitere Option vor: das Verfuettern von Essensresten an Nutztiere wieder zu erlauben. Das ist seit 2006 aus Angst vor Seuchen verboten. Was jetzt etwa auf den Tellern in Restaurants liegen bleibt, muss verbrannt werden. „In Deutschland herrschen eigentlich sehr gute hygienische Verhaeltnisse“, sagt Stephan Buettner, Geschaeftsfuehrer des Gastronomieverbands Dehoga.

„Nach unserer Auffassung haette man die Reste sehr gut weiter verfuettern koennen.“ Die Mitglieder seines Verbands muessen jetzt nicht nur fuer die energieaufwendige Verbrennung der Reste bezahlen (frueher bekamen sie Geld dafuer) – auch muss jetzt massenhaft mehr Futter aus Suedamerika importiert werden, um den Hunger der Schweine und Rinder anderweitig zu stillen. Ganze fuenf Millionen Tonnen Getreide muessen deshalb mehr angebaut werden – die Menschen nicht zugute kommen.

Am besten laesst sich die marktgemachte Verschwendung jedoch eindaemmen, wenn man sie mit den Mitteln der Marktwirtschaft selbst schlaegt. „In Grossbritannien hat die Regierung das ganze Land mit Informationskampagnen ueberzogen, auch den Hausfrauenbund ins Boot geholt“, sagt Filmemacher Thurn. „Das hat richtig Druck auf die Wirtschaft ausgeuebt.“ Inzwischen gebe es keinen groesseren englischen Supermarkt mehr, der keine eigene Strategie zur Muellvermeidung habe. „Wenn nur fuenf Prozent der Verbraucher zum Bauernhof abwandern“, sagt Thurn, „wuerde auch hier der Handel ganz schnell umdenken, also weniger wegwerfen und mehr regionale Vielfalt anbieten.“ Dass Deutschland eine Marktwirtschaft sei, muesse man daher als grosse Chance betrachten.

Lebensmittel einsparen als erfolgreiches Geschaeftsmodell

Lebensmittel einzusparen kann sogar ein erfolgreiches Geschaeftsmodell sein, wie immer mehr Baecker beweisen. Ihre Filialen heissen „Yesterday“ oder „Second Baeck“, sie eroeffnen in kleinen Kaeffern wie Arnsberg im Sauerland genauso wie in hippen Grossstadtvierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin. Wohl kein Lebensmittel landet so haeufig im Muell wie Brot; einige Baeckereien schmeissen ein Fuenftel ihrer Tagesproduktion abends wieder weg. Bernd Heberger machte aus der Not mit dem Brot eine Tugend: Er kauft den Baeckern ihre ueberschuessige Ware wieder ab, in seinem kleinen Geschaeft in der Nuernberger Suedstadt verkauft er dann das Brot vom Vortag fuer einen Euro weiter. Mit dieser Idee hat es der Unternehmer schon ins Fernsehen geschafft. Eine hannoversche Geschaeftsfrau hat mit dem gleichen Konzept ihre dritte Filiale eroeffnet.

Noch mindestens drei Schritte weiter geht ein Baeckermeister aus dem Rheinland. Roland Schueren aus Hilden bei Duesseldorf verbrennt seit vergangenem Jahr das uebriggebliebene Brot seiner 14 Filialen und heizt damit seine oefen. Trockenes Brot habe in etwa den selben Heizwert wie Holz, erklaerte er „Zeit Online“. „Brot zu verbrennen, ist irgendwie pervers“, sagt Valentin Thurn, der Schueren auch persoenlich kennt. Allerdings kenne er keinen Baecker, der so energisch gegen die Verschwendung kaempfe wie Schueren: Er moechte eine CO2-neutrale Baeckerei schaffen. Verbrennen und so Energie gewinnen sei schliesslich immer noch besser als wegwerfen, findet er.

Der Koch Wam Kat sieht im Kochen und Einkaufen grundsaetzlich politische Akte: „Die Sachen, die wir kaufen – ob Fertigprodukte, Suessigkeiten oder fair gehandelte und biologische Waren – sagen viel darueber aus, wie die Welt sich weiterentwickelt. Dreimal am Tag koennen wir darueber abstimmen.“


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